Oliver Geden (SWP): Klimawissenschaft muss unabhängig bleiben
Als der US-Wirtschaftsprofessor William Nordhaus 1977 eine Grafik mit einer als „Zwei-Grad-Grenze“ bezeichneten Linie veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, welch steile Karriere seine Wortschöpfung machen würde. 2010 machte sich COP16, der ansonsten enttäuschende Klimagipfel von Cancún, die zwei Grad zu eigen, im deutschen Sprachraum vielfach zum „Zwei-Grad-Ziel“ umgedeutet. Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik stellte jetzt in nature klar, dass die Grenze überschritten werde, und die Klimawissenschaft mit schleichender Aufgabe der Unabhängigkeit ihre Reputation aufs Spiel setze.
Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit akzeptierten nämlich längst, so Geden, „dass die Fortschritte nicht ausreichen werden, um den durchschnittlichen globalen Temperaturanstieg innerhalb der 2°-Grenze zu halten“. Dennoch würden ständig neue Szenarien veröffentlicht, wie diese Grenze doch einzuhalten sei.
Aus dem Verhandlungsziel sei das geworden, „was politisch möglich ist, und nicht, was für die Umwelt wünschenswert wäre“. Das globale „Top-down“-Ziel einer Stabilisierung der Emissionen oder einer rechtsverbindlichen Kohlenstoffbilanz sei gefallen. Das Pariser Treffen werde sich auf freiwillige „Bottom-up“-Verpflichtungen der einzelnen Staaten zur Emissionsreduzierung konzentrieren.
„Die globale Klimaziel wird in der Hoffnung auf eine Vereinbarung in Paris verwässert: Die 2-Grad-Grenze muss nur ‚greifbar‘ gehalten werden… Klimawissenschaftler und Ökonomen, die politische Entscheidungsträger beraten, werden unter Druck gesetzt, ihre Modelle und Optionen zu erweitern, um die Treibhausgas-Minderung später zu erreichen.“
Wissenschaftler riskieren guten Ruf
Die Wissenschaftler riskierten aber ihren guten Ruf, wenn sie dieses Spiel weiter mitmachten: „Die Klimaberater müssen ihre Integrität bewahren und dem Druck widerstehen, der die Integrität der Klimawissenschaft untergräbt“, fordert Geden. „Statt falschen Optimismus zu verbreiten, müssen sie ihre intellektuelle Unabhängigkeit, Feststellungen und Empfehlungen verteidigen – egal wie politisch ungenießbar diese sind.“
Klimaforscher, die politische Entscheidungsträger berieten, fühlten, dass sie zwei Möglichkeiten hätten: pragmatisch werden oder ignoriert werden. „Entweder sie distanzieren sich von dem politischen Prozess, indem sie erklären, dass es nicht mehr möglich sei, innerhalb eines 2°C-kompatiblen C-Budgets zu bleiben, oder sie schlagen praktische Wege vor, wie man der Kohlenstoff-Verringerung ausweichen könne. Viele Berater entschieden sich für den Pragmatismus. Dies könne zu paradoxen Positionen führen, wie es die Veränderung der Annahmen in den vergangenen Jahren veranschauliche: „Jedes Jahr werden die Verringerungs-Szenarien, mit denen die politischen Optionen für die Transformation der Weltwirtschaft erkundet werden, optimistischer – und weniger plausibel. Die Berater haben einmal angenommen, dass die globale Emissions-Spitze vor 2020 erreicht werden müsste und dass jährliche Reduktionsraten von mehr als 3% nicht möglich wären. Diese Annahmen ändert sich ständig.“
„Politische Entscheidungsträger sehen in den IPCC-Berichte hauptsächlich eine Quelle für Zitate, mit denen sie ihre Präferenzen legitimieren. Unterdessen hoffen politische Entscheidungsträger jedoch, dass trotz 20 Jahre lang steigender Emissionen die 2-Grad-Grenze theoretisch noch in Reichweite sei. Sie ignorieren aber das Kleingedruckte der IPCC-Berichte, zum wachsenden Ärger der Klimaforscher.“