Makromolekulare Chemie
Was macht man mit CO2? Am Wacker-Lehrstuhl für Makromolekulare Chemie der Technischen Universität München entwickeln Professor Rieger und sein Team daraus kurzerhand hochwertige Kunststoffe. Sie sparen so nicht nur den Rohstoff Erdöl, sondern bieten zudem einen Weg, CO2 als Rohstoff wieder zu verwenden.
Die Moleküle, mit denen er arbeitet, brauchen Energie von außen, um zu reagieren – Bernhard Rieger ist da völlig anders. Während er von seiner Suche nach maßgeschneiderten Katalysatoren erzählt, mit denen er neue Werkstoffe schafft, bleibt Rieger keinen Augenblick still sitzen. Skizziert er eben noch chemische Reaktionen an der Tafel, so steht er im nächsten Moment am Rechner, um ein Diagramm an die Wand zu werfen. Ein paar Augenblicke später kramt er im Schrank und fördert aus seiner Kunststoffsammlung von der Babywindel über die Klarsichtfolie bis zum Blutbeutel verschiedene skurrile Gegenstände zu Tage.
Kunststoffe finden sich fast überall. Ihre Stärke sind ihre vielfältigen Eigenschaften, die sich gezielt produzieren lassen. Durch die Entwicklung neuer Materialien und durch Mischen vorhandener Kunststoffe ist es möglich, für jeden Zweck den passenden Kunststoff herzustellen – zum Beispiel besonders schlagfestes Material für Karosserien oder sehr feuchtebeständige Stoffe für Elektronikgehäuse. Die Forschung an neuen Werkstoffen ist immens wichtig, denn sie sind die Grundlage für immer weitere Innovationen. Holger Hanselka, der Leiter des Fraunhofer Instituts für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit, führt heute zwei Drittel aller technologischen Neuerungen auf neu entwickelte Materialien zurück.
Genau das ist Riegers Forschungsgebiet. Im Jahr 2006 hat er – zu der Zeit noch Professor in Ulm – für die Entwicklung eines biologisch abbaubaren Kunststoffs den hochdotierten Philip-Morris Forschungspreis erhalten. Damals nutzten er und seine Kollegen Kohlenmonoxid und Propylenoxid als Ausgangsstoffe, um das in der Natur vorkommende Polymer Polyhydroxybtyrat (PHB) synthetisch herzustellen. Ein großer Durchbruch, denn PHB ist kompostierbar, und man kann es gezielt mit unterschiedlichen Eigenschaften erzeugen. Durch kleine Veränderungen in der Synthese entstehen zum Beispiel harte oder weiche PHB-Materialien, die wiederum zu so verschiedenen Produkten wie Tüten oder Autoteilen führen.
Mittlerweile leitet Rieger den Wacker-Lehrstuhl für Makromolekulare Chemie an der TUM und hat einen neuen Rohstoff im Visier: Kohlendioxid (CO2). Es treibt ihn vor allem die Neugier: Was für eine Art Polymer könnte aus diesem neuen Ausgangsmaterial entstehen? Was passiert, wenn man CO2 mit diesem oder jenem Katalysator zusammenbringt? Was wird man mit dem entstandenen Stoff machen können? Hinzu kommen ökologische und ökonomische Aspekte: Kunststoffe werden heute zu 100 Prozent aus Erdöl hergestellt. Obwohl nur ca. sechs Prozent des deutschen Erdölverbrauchs auf die Kunststoffproduktion entfallen, ist Rieger überzeugt, dass Europa bei der Entwicklung ölfreier Kunststoffe ganz vorne mit dabei sein muss. Reines CO2 wie er es zur Polymerherstellung braucht, gibt es genug. Es fällt in bestimmten Industriezweigen an, die es seit den weltweiten Bestrebungen, den CO2-Ausstoß zu verringern, abtrennen müssen. Anstatt es zu lagern, kann man es auch – wie Rieger – als Rohstoff betrachten und wiederverwerten.
Neue Werkstoffe und ihr Potenzial
Kohlenstoff war in der Vergangenheit vor allem in zwei Formen bekannt – Graphit und Diamant. In den letzten 25 Jahren haben Wissenschaftler immer neue Kohlenstoffformen entdeckt. Fullerene, die aus riesigen fußballförmigen Molekülen bestehen, und Nanoröhrchen, winzige Strukturen aus 100 – 10000 Atomen. Nanoröhren sind heute eines der interessantesten Forschungsgebiete. Je nachdem, zu welchen Netzformen die Wissenschaftler sie zusammenfügen und wie sie chemisch bearbeitet sind, leiten sie elektrischen Strom wie Metalle oder verhalten sich wie der Halbleiter Silicium. Anders als Silicium sind sie durchsichtig und biegsam – und schon lassen sich elastische Solarzellen und dergleichen mehr denken. Noch steckt die industrielle Verwertung von Kohlenstoff-Nanonetzen in den Kinderschuhen.
Rieger macht sich unterdessen im neu gegründeten „Institut für Siliciumchemie“ daran, neue Formen von Silicium und seinen Verbindungen zu synthetisieren – und erwartet ähnlich revolutionäre neue Werkstoffe. Rieger hält Silicium für eines der vielversprechendsten Elemente. Zum einen, weil es – anders als Kohlenstoff – in großer Menge als Rohstoff vorhanden ist, zum anderen weil es wegen seiner herausragenden elektrischen und optoelektronischen Eigenschaften ein überaus breites Anwendungsspektrum verspricht.
Wie entsteht ein neuer Werkstoff?
Kunststoffe sind Polymere. Das bedeutet: Sie bestehen aus langen Ketten der immer gleichen Molekülbausteine. Neue Ausgangsstoffe – wie CO2 – liefern neue Einzelbausteine, während die Reaktionsbedingungen und die Art der Katalysatoren die Struktur des neu geschaffenen Polymers beeinflussen. Kohlendioxid ist ein stabiles Produkt von Verbrennungsprozessen. Es reagiert nur, wenn es Energie von außen bekommt. Dafür nutzt Rieger das Epoxid Propylenoxid. Epoxide sind ringförmige Moleküle, die extrem gespannt sind und sehr leicht reagieren. Sie lagern sich an CO2 an und schaffen eine offene Stelle, die ein weiteres Molekül binden kann. Epoxid und CO2 alleine ergeben allerdings noch kein Polymer – sie brauchen Katalysatoren, mit denen die Reaktion schneller abläuft. Ihnen fällt eine Schlüsselrolle zu: Die Form und die Art des Katalysators beeinflussen die Form der Molekülkette und damit die Eigenschaften des entstandenen Stoffs. Einen neuen Werkstoff zu schaffen, heißt für Rieger, sich einen Katalysator zu überlegen, der dem Endprodukt die gewünschten Eigenschaften verleiht.
Rieger ist zudem ein ausgewiesener Experte für Metallocene – die neuste Generation von Katalysatoren für die großtechnische Kunststoffherstellung. „Gedanken materialisieren“ nennt er es, wenn er Stoffe, die es seiner Vorstellung nach geben könnte, im Labor schafft. Solche Synthesen brauchen viel Gespür und sind nie exakt plan bar. Ihr Resultat ist letztendlich immer ein unbekannter Stoff.
Damit beginnt die Arbeit in Riegers Analyselabor. Wie sieht die neue Substanz aus? Wo hat sich der Katalysator angelagert, welche Molekülbausteine sind entstanden? Und mit welchen Materialeigenschaften geht diese Struktur einher? Je besser man diese Zusammenhänge versteht, desto gezielter kann man neue Materialien entwickeln. Ein Flüssigkeits-Chromatograph zerlegt den neuen Stoff in seine einzelnen Bestandteile. Mit Druckreaktoren für die Polymerisation kann Riegers Team bis zu einigen Kilo Kunststoff herstellen und in der eigenen Spritzgussanlage in Form gießen. Ein Rasterelektronen-Mikroskop liefert hochgenaue Daten über deren Oberflächenbeschaffenheit und die Verteilung der chemischen Elemente. Letztere gibt Aufschluss über die Struktur des Kunststoffs, ob die Materie klumpt oder wie sich die einzelnen Molekülgruppen verteilen. Zusätzlich wird die Materialbeschaffenheit, wie zum Beispiel Schlagfestigkeit und Temperaturstabilität untersucht.
Schlagfest oder biegsam
Oft sind die Eigenschaften der entstandenen Kunststoffe im Vergleich mit Standardmaterialien – zum Beispiel PVC oder Polypropylen (PP) – noch nicht perfekt. Dann überlegt Riegers Team, wie sie dem Material die gewünschte Eigenschaft verleihen könnten. Ein anderer Katalysator, der anders eingebaut wird? Wie müsste der aussehen? Kleinere Ausgangsmoleküle? Weichmacher, die nachträglich ins Plastik eingetragen werden?
Erste Erfolge gibt es schon: Rieger legt eine transparente, harte, einige Millimeter dicke Plastikplatte auf den Tisch. Sie besteht aus Polypropylencarbonat (PPC), einem Kunststoff, den er aus CO2 und Propylenoxid synthetisiert hat. Der Stoff ist eine Abwandlung des bekannteren Polycarbonats, hat aber ganz neue Eigenschaften: Während Polycarbonat extrem schlagfest ist, kann Rieger seine Platte biegen, wenn er sie mit den Händen anwärmt. Die Glasübergangstemperatur, bei der ein Kunststoff biegsam wird, liegt für PPC schon bei einigen 30°C. Die Industrie bekundet bereits Interesse, weil sich mit einem solchen Material ganz neue Anwendungen und Verarbeitungsmöglichkeiten denken lassen.
Im Fall von PPC ist Rieger am Ziel angekommen. Als Grundlagenforscher mit Leib und Seele wendet er sich, sobald die Machbarkeit eines neuen Polymers sich zeigt, neuen Ideen zu. Er möchte sein Labor zu einem Zentrum für die katalytische Herstellung von Werk- und Wirkstoffen aus CO2 entwickeln – auch als Anlaufstelle für die internationale Industrie, mit der er seit Jahren eng zusammenarbeitet.
Weil man viel Energie aufwenden muss, um aus CO2 Werkstoffe zu schaffen, ist das Verfahren nur sinnvoll, wenn dabei hochwertige Produkte entstehen. Dass er derer noch viele finden wird, davon ist Rieger überzeugt, nicht zuletzt wegen seiner Doktoranden, die ihm besonders am Herzen liegen: „Es gibt mehr als genug Ideen zu CO2 und man braucht viele gute Leute, um diese Ideen zu testen und zu erforschen“, so der Professor. Und seine Augen leuchten dabei. Autorin: Christine Rüth
->Quelle: Faszination Forschung 4/09 – hier mehr (Forscher wollen CO2 zu Teil der Energielösung machen – Umgewandelt in Methan soll es zur Speicherung von Energie aus Solar- und Windparks beitragen.)…