Keine „letzten Wahrheiten“ – die Grenzen
Ich möchte nun noch einige weitere Punkte zur Sprache bringen: Man muss ja nicht wie ich in früheren Jahren Pastor gewesen sein, um auch ein bisschen Erleichterung darüber zu empfinden, dass es in der Wissenschaft nicht so etwas wie „letzte Wahrheiten“ gibt. Wissenschaftsbasierte Beratung von Politik und Gesellschaft stößt zwangsläufig dort an ihre Grenzen, wo schlicht Wissen oder auch Erfahrungswerte fehlen: Als man zum Beispiel Fluorkohlenwasserstoffe einzusetzen begann, da konnte niemand ahnen, welche Folgen das für die Ozonschicht haben würde. Damals war das nicht einmal in Ansätzen abzusehen. Heute sind wir klüger. Doch beginnen wir erst jetzt, die komplexen Wirkungszusammenhänge des Klimawandels wirklich zu verstehen.
Auch sollte uns bewusst sein, dass es bei der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse gelegentlich zu kommunikativen Missverständnissen kommt. So kennen wir alle das weithin beliebte Klagen über die angeblichen Irrtümer der Meteorologen. Doch die der Wetterprognose zu Grunde liegende komplizierte Wahrscheinlichkeitsrechnung ist uns Zuschauern zumeist schlicht nicht bewusst und könnte in der Kürze des Wetterberichts auch nur schwer erklärt werden – ein Beispiel dafür, dass wir uns so gern einmischen in Fachdebatten, obwohl wir grundsätzlich nichts davon verstehen.
Natürlich ist der Prozess der „Beratung“ der Politik durch die Wissenschaft stets mehr als nur Wieder- und Weitergabe von Wissen. Interpretieren und beraten – das heißt eben auch gewichten und bewerten. Deshalb wird viel darüber gestritten, inwieweit Normen Ausgangspunkt wissenschaftlicher Empfehlungen an Politik und Gesellschaft sein sollen. Sie, lieber Herr Professor Hacker, haben diese Fragestellung als wesentliche Herausforderung der Leopoldina benannt: Wie lassen sich die „objektive Darstellung des wissenschaftlichen Kenntnisstands und die ethische Begründung normativer Ratschläge miteinander verbinden“? – so Ihre Frage. Ich bin gespannt, wie sich diese Debatte weiter entwickelt.
Wissenschaft soll stärker den Dialog mit der Gesellschaft suchen
Und das bringt mich zu einem Wunsch, dem ich Ausdruck verleihen möchte, weil mir dieses Forum dafür auf so hervorragende Weise geeignet erscheint: Ich wünsche mir, dass die Wissenschaft noch stärker den Dialog mit der Gesellschaft sucht. Die Wissenschaft sollte selbst danach streben, über einzelne Themen wie über das Wesen der Wissenschaft beständig selbst aufzuklären.
Eric Kandel, einer der wichtigen Hirnforscher unserer Zeit – das passt ja sehr schön zum Thema Ihrer Jahrestagung – hat über das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit gesagt: „Wir als Wissenschaftler haben die Verpflichtung, unsere Arbeit jedem zu erklären. Vieles von dem, was wir tun, ist nicht so komplex, dass man es nicht in zwei, drei Sätzen beim Abendessen erklären könne. Zumindest nach drei Gläsern Sekt“. Inwiefern Sie also letzterer Empfehlung folgen möchten, das muss ich natürlich Ihnen überlassen. Doch ich möchte Sie dazu ermutigen, Ihr Wissen anschaulich zu vermitteln, wo Sie nur können. Sie werden dabei sicher verallgemeinern müssen, um Ihre Forschung dem Laien in wenigen Sätzen zu erläutern.
Ich sage dies auch in dem klaren Bewusstsein, dass nicht jeder große Forscher auch ein großer Vermittler sein kann. Das ist mir völlig klar. Aber ich bitte Sie doch: Haben Sie keine Scheu davor, Wissenschaft auch einmal zur „Populärwissenschaft“ im positiven Sinn werden zu lassen. Es ist meine herzliche Bitte an Sie, sich dieser Verpflichtung hinzugeben und etwas dafür zu tun. Denn wir erleben gerade in der Politik, dass nicht nur die Entscheidungen, die dort getroffen werden, politisch wirksam sind, sondern auch die Art und Weise, wie Politik kommuniziert wird. Wir könnten geradezu sagen, Kommunikation ist Teil des politischen Handelns. Und das lässt sich sehr gut auf diesen Sachverhalt übertragen, zu dem ich soeben meine Meinung geschildert habe.