Reinhard F. Hüttl, acatech Präsident, im Solarify-Selbst-Gespräch
Also, wenn Sie mich fragen: Schafft es Deutschland bis 2022 aus der Kernenergienutzung auszusteigen?
Dann sage ich: Ja, das ist absolut realistisch. Zu diesem Ergebnis sind wir bereits 2011 im Rahmen der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ gekommen. Jetzt gilt es, diesen Ausstieg so zu gestalten, dass die Energieversorgung in Deutschland sicher und bezahlbar bleibt. Dabei müssen wir auch unbequeme Folgen offen ansprechen. Dass wir etwa unsere Energienetze ausbauen müssen, weil mehr Strom von Nord nach Süd transportiert und immer mehr dezentrale Energieerzeuger integriert werden müssen. Und dass wir auch mittelfristig effiziente Gas- und Kohlekraftwerke brauchen.
Wohlgemerkt, das langfristige Ziel ist der Ausstieg aus der Kernenergie und der Ausbau der Erneuerbaren. Entsprechend hat die Bundesregierung beschlossen, auch die Energieforschung auf die Energiewende auszurichten. Die Wissenschaft ist gefordert, ihren Beitrag leisten. Dabei gilt es, technologieoffen zu forschen: Wir müssen die Photovoltaik, Windkraft und die verschiedenen Ansätze, Biomasse als Energieträger zu nutzen, weiter erforschen, ohne Alternativen wie etwa die Geothermie aus dem Blick zu verlieren. Wenn es uns gelingt, nicht nur die oberflächennahe, sondern auch die tiefe Geothermie wirtschaftlich rentabel zu gestalten, könnten wir damit eine weitere erneuerbare Energiequelle gewinnen, die sogar grundlastfähig ist.
Welche Eckpfeiler müssen beim Umbau des Energiesystems beachtet werden?
Deutschland schreitet mit der Energiewende voran. Umso wichtiger ist es, sie im internationalen Kontext zu sehen. Denn erstens muss das deutsche Energiesystem mit dem der EU harmonieren. Zweitens hat die Energiewende eine weltweite Signalwirkung. Sind wir erfolgreich, wird Deutschland zu einem Leitmarkt und Leitanbieter sicherer, bezahlbarer und umweltfreundlicher Energietechnologien.
Ein zentraler Faktor für das Gelingen der Energiewende ist der „Systemblick“. Die Strukturen der Energiewandlung, -verteilung und -nutzung sind sehr komplex. Greift man in dieses System ein, etwa durch wirtschaftspolitische Steuerungsmaßnahmen, kann das unvorhergesehene Auswirkungen haben. Im ungünstigsten Fall erzielt man sogar genau den gegenteiligen Effekt dessen, was man erreichen wollte: Man schaltet Kohle- und Kernkraftwerke ab und importiert diesen Strom dann wieder, und zwar von Anlagen mit niedrigeren Sicherheits- und Umweltstandards. Konzepte zum Umbau der Energieversorgung dürfen daher nicht mit heißer Nadel gestrickt werden. Im Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ nehmen wir genau diese systemischen Wechselwirkungen in den Blick. Eine Gruppe von mehr als 50 Wissenschaftlern beleuchtet das Thema Energieversorgung aus allen Perspektiven: technologisch, wirtschaftlich, rechtlich, gesellschaftlich und ökologisch.
Folgt: Kann die Wissenschaft den Masterplan für die Energiewende liefern?