Erhöhung der Säurekonzentration um etwa das Hundertfache – elektrische Ladung mineralischer Oberflächen verändert
Wenn Wasser über Glas oder Gestein fließt, passiert chemisch mehr als bisher angenommen. Ein Team des Mainzer Max-Planck-Instituts für Polymerforschung und der belgischen Universität Namur hat jetzt mit einem ausgeklügelten spektroskopischen Verfahren herausgefunden, dass sich die elektrische Ladung von mineralischen Oberflächen unter einer Wasserströmung entscheidend verändert, weil sich dabei manche Ionen bevorzugt aus dem Material lösen. Ob und wie stark sich die Oberfläche dabei auf- oder entlädt, hängt davon ab, um welches Mineral es sich handelt und wie sauer oder basisch das strömende Wasser ist. Die Ladungsänderung kann aber so stark sein, dass sie einer Erhöhung der Säurekonzentration um etwa das Hundertfache entspricht. Mit der Änderung der Oberflächenladung verrichtet man unausweichlich elektrische Arbeit und ändert somit die Energie der Oberfläche und ihre Reaktivität. Daher könnte die aktuelle Erkenntnis Konsequenzen für das Verständnis zahlreicher chemischer Prozesse in Natur und in Industrie haben.
Strom im Fluss: Bewegt sich Wasser, hier dargestellt durch rote Kugeln für Sauerstoff und weiße Kugeln für Wasserstoff, über eine Mineralienoberfläche lösen sich Ionen, symbolisiert durch die grauen Kugeln, von der Oberfläche. Diese, aber auch das Wasser laden sich so auf. Diese Erkenntnis könnte sich auf das Verständnis vieler chemischer Prozesse Prozesse, wie die Verwitterung von Gestein auswirken. Bild © MPI für Polymerforschung
In der Chemie kommt es oft auf die Oberfläche an – zumindest immer dann, wenn es um Reaktionen an festen Materialien geht. Dass sich die Ladung mineralischer Oberflächen in fließendem Wasser verändert, ist ein bisher unbekannter Faktor, der die Eigenschaften von Oberflächen und somit ihr chemisches Verhalten beeinflusst – und zwar geradezu allgegenwärtig: Wenn Regentropfen eine Fensterscheibe herunter rinnen, wenn Bäche und Flüsse ihr Bett auswaschen, wenn Fels erodiert oder wenn gelöste Reaktionspartner an einem festen Katalysator zusammenkommen.
Möglicherweise gewaltige Bedeutung
Noch lässt sich die Bedeutung der neuen Erkenntnisse zwar nicht genau abschätzen. Möglicherweise aber ist sie gewaltig: So besteht der größte Teil der Landoberfläche aus Mineralien, deren Oberflächen beständig oder zumindest immer wieder von fließendem Wasser, seien es Flüsse, Bäche oder Niederschläge überspült werden. Da sich die Reaktivität von Mineralien in fließendem Wasser mit der Ladung ihrer Oberfläche ändert und sie sich zudem – je nach Oberfläche – schneller oder langsamer auflösen, könnten die Befunde des Teams um die Max-Planck-Forscher für die Bodenerosion und die Gesteinsverwitterung relevant sein. Die Verwitterung von Gestein spielt wiederum eine Rolle in der langfristigen Entwicklung des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre, weil dabei Kohlendioxid gebunden wird.
Die Oberflächenladung könnte sich bei Erosion und Verwitterung relevant sein
„Aufgrund unserer Erkenntnisse zu elementaren Lösungsvorgängen von Mineralien wird es nötig, etablierte geologische Theorien zu überprüfen und zu erforschen, welche Auswirkung die Änderung der Oberflächenladung auf Prozesse wie etwa Erosion und Verwitterung hat“, erklärt Mischa Bonn, Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung. Denn viele Modelle der Gesteinsverwitterung beruhen oft auf experimentellen Untersuchungen in nicht bewegtem Wasser.
Mischa Bonn und sein Team ließen unterschiedlich saures und basisches Wasser zum einen über Kalziumdifluorid strömen. Dabei lösen sich bevorzugt negativ geladene Fluoridionen von der Oberfläche, während die positiven Kalziumionen dort verbleiben. Welche Ladung die Oberfläche dabei annimmt, hängt davon ab, ob diese in unbewegtem Wasser eine positive oder negative Ladung trägt und wie hoch diese ist. Denn wie Wissenschaftler bereits lange wissen, lädt sich eine mineralische Oberfläche auch auf, wenn sie von unbewegtem Wasser benetzt wird, weil sich dabei manche Ionen besser lösen als andere. Die Ladung hängt davon abob das Wasser sauer oder basisch ist. Wenn die Forscher ihr Experiment mit Kalziumdifluorid in leicht basischem Wasser begannen, in dem die Oberfläche nur leicht negativ geladen ist, konnten sie die Oberfläche durch den Wasserstrom umpolen.
Zum anderen untersuchte das Forscherteam Siliziumdioxid, den Hauptbestandteil von Quarzglas, unter fließendem Wasser. In neutralem und basischem Wasser ist dessen Oberfläche negativ geladen. Bewegt sich das Wasser jedoch, verringert sich die negative Ladung, weil sich negativ geladene Ionen der Kieselsäure lösen. In neutralem Wasser entlädt sich die Oberfläche dabei besonders stark. Strömt saures Wasser über das Mineral, lösen sich ebenfalls Kieselsäure-Moleküle, allerdings ungeladene. So verändert sich die Ladung der Oberfläche nicht.
Folgt: Geordnete Wassermoleküle als Indikatoren für die Oberflächenladung