2. Die Entwicklung der energiepolitischen Diskussion
Aufgrund der starken Zentralisierung der Entscheidungsprozesse und der Vereinnahmung durch die politische und technokratische Elite war das Thema Energiepolitik in Frankreich bis in die Jahrtausendwende zumindest wahlpolitisch nicht relevant. Rechte wie linke Regierungsparteien verteidigten gleichermaßen den bestehenden Atomkonsens in der Annahme, dass sich die Bürger über die Kostenfrage hinaus nicht für das Thema interessierten. Dieser Sachverhalt führte dazu, dass das Thema Energiepolitik allgemein in der öffentlichen Debatte bislang einen deutlich geringeren Stellenwert hat als in Deutschland und die Bürger selten über den Kreis der Experten hinaus anspricht Und auch als der damalige konservative Präsident Nicolas Sarkozy 2007 eine umfassende „Umweltkonferenz“ mit allen Interessengruppen (Umweltorganisationen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverband, Politik) organisierte, wurden viele weitreichende Entscheidungen gefällt – das Thema Atomkraft blieb jedoch tabu.
Erst nach der tragischen Katastrophe von Fukushima kam es auch in Frankreich zu einer zögerlichen Neubetrachtung der Atomfrage. Ohne einen Atomausstieg mehrheitsfähig zu machen, führte dies dazu, dass die sozialistische Partei (PS) den Ansatz einer progressiven Diversifizierung der Stromerzeugung vertrat. Anders als in Deutschland war dabei nicht das Unfallrisiko per se ausschlaggebend. Vielmehr wiesen Experten und die französische Nuklearsicherheitsbehörde darauf hin, dass in den nächsten Jahrzehnten aufgrund von Altersschwäche das Risiko „systemischer Defekte“ bestünde. Diese könnten dazu führen, dass ein Großteil der Reaktoren gleichzeitig stillgelegt werden müssten. Angesichts der Tatsache, dass der Kraftwerkspark ohnehin erneuert werden sollte, erschien die Option einer schrittweisen Diversifizierung also sinnvoll. Zudem wurde dieses Ziel auch industriepolitisch legitimiert, da erst die Verringerung der Atomkraft eine glaubwürdige Perspektive für die Entwicklung neuer Industriesektoren, insbesondere im Bereich erneuerbarer Energien, eröffnen würde.
3. Die „nationale Debatte zur Energiewende“
Nach der Präsidentschaftswahl berief Präsident Hollande Ende 2012 die „nationale Debatte zur Energiewende“ (Débat national sur la transition énergétique) ein, die als Diskussionsforum zwischen Interessengruppen dazu dienen sollte, einen gesellschaftlichen Konsens zur zukünftigen energiepolitischen Strategie zu erarbeiten. Über eine Dauer von acht Monaten versammelte dieses Forum 120 Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Zivilgeseilschaft sowie ein Expertengremium aus verschiedensten Bereichen. Eine derart institutionalisierte Debatte, die Generalsekretariat, Leitungsausschuss, Expertengremi um und Plenarsitzungen einbezog, war auch für Frankreich ein Novum und zeigt, dass dem Thema politisch deutlich mehr Stellenwert zugemessen wird.
Vordergründig verfolgte die Debatte zwei Ziele: Zum einen sollte für eine Energiewende bis 2050 ein vertretbares Szenario definiert werden, das primär ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren Rechnung trägt. Zum anderen sollten konsensfähige politische Maßnahmen ausgearbeitet werden, die als Basis für ein entsprechendes Gesetz dienen sollten.
Folgende Ziele standen dabei im Vordergrund und wurden ebenfalls in den aktuellen Gesetzesentwurf übernommen:
- die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase um 75 Prozent bis 2050 in Bezug auf das Referenzjahr 1990,
- Energieeffizienz und Suffizienz sollen das Leitbild der französischen Energiewende werden, mit dem Ziel, den Endenergieverbrauch bis 2050 um die Hälfte zu reduzieren und bis 2030 den Verbrauch fossiler Energieträger um 30 Prozent zu senken,
- die Diversifizierung der Stromerzeugung und die Reduktion der Atomkraft (um 50 Prozent bis 2025),
- der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Endenergieverbrauch soll bis 2030 auf 32 Prozent (2012 14 Prozent), der Anteil an der Stromerzeugung auf 40 Prozent steigen.
Anders als das Reformpaket für die Energiewende, das in Deutschland im Sommer 2011 als Reaktion auf das Reaktorunglück in Fukushima ausgearbeitet und parteiübergreifend konsensfähig wurde, sind diese ambitionierten Ziele in Frankreich weiterhin sehr konfliktträchtig. Die nationale Debatte hat zwar zu einem offeneren Dialog zur Zukunft der Atomkraft, aber bei Weitem nicht dazu geführt, dass die aktuellen Entscheidungen von allen Interessengruppen mitgetragen werden. Insbesondere die Wirtschaft (Arbeitgeber wie auch ein Großteil der Gewerkschaften) und die konservativen Parteien stemmen sich gegen eine Veränderung des Status quo. Sie argumentieren, dass eine Verringerung der Atomkraft die ohnehin sehr angeschlagene französische Industrie weiter schwächen und zusätzliche Kosten verursachen würde. Auch innerhalb des Parti Socialiste gibt es erste Abweichungen in Bezug auf die Zukunft der Atomkraft.
Über diesen Konflikt hinaus hat sich in der französischen Debatte noch ein weiteres Spannungsfeld eröffnet: Während viele Experten das sehr ambitionierte Energieeffizienzziel (-50 Prozent Endenergieverbrauch bis 2050) als den effizientesten Weg zum Erreichen langfristiger Klimaziele und zum Ankurbeln der Wirtschaft ansehen, vertraten konservativere Stimmen die Ansicht, dass dies unvermeidlich zu einer Drosselung der französischen Wirtschaft führen würde. Anstatt sich lediglich auf rein technische Fragen der Effizienzpotenziale in verschiedenen Sektoren zu konzentrieren, hat diese Diskussion ein neues Themenfeld aufgeworfen, das bislang in der deutschen Diskussion nur selten betrachtet wird: die Problematik der „Suffizienz“ (sobriété énergétique) als reflexiven Ansatz im Hinblick auf unsere aktuellen Konsum- und Wirtschaftsmodelle.
Während Energieeffizienz lediglich darauf abzielt, den Energie-Input für eine gegebene Dienstleistung (Wärme, Licht, Mobilität) zu reduzieren, hinterfragt die Suffizienz, wie der Bedarf einzelner Dienstleistungen und Güter reduziert werden kann: Wie viele Privatwagen können durch umfassende Carsharing-Programme ersetzt werden? Wäre es ökologisch und sozial sinnvoll, dem Trend des Einpersonenhaushalts entgegenzuwirken? Wie kann die Politik über die Stadtplanung Signale setzen, um die Zersiedlung der Städte zu verringern, den Transportbedarf zu senken und Stadtzentren zu revitalisieren? Oder anders gefragt: „Wie viel mehr ist genug?“
Obwohl vielfach als „Eingriff“ in die individuelle Freiheit betrachtet, ist dieser Ansatz dennoch relevant, um die oftmals sehr technisch-ökonomische Energiedebatte um eine soziale und kulturelle Dimension zu bereichern und um zu verdeutlichen, dass sich die Energiewende im breiteren Sinne keineswegs auf das Ingenieurswissen beschränkt.