Erneuerbar ist nicht gleich umweltfreundlich: Forscher warnen vor den ökologischen Folgen der Wasserkraft
Angesichts des weltweiten Booms der Wasserkraft fordern Wissenschaftler verbesserte Standards für den Bau und Betrieb von Anlagen. Noch gehörten die Binnengewässer zu den artenreichsten Ökosystemen. Doch Forscher vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) warnen: diese Vielfalt sei bereits heute stark gefährdet, das Artensterben werde sich weiter beschleunigen. Sie präsentieren jetzt erstmals eine globale Datenbank, die es erlaubt, den Umfang und die möglichen Auswirkungen der zukünftigen Dämme zu bestimmen.
Jörn Gessner]Derzeit werden 3.700 große Staudämme, vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern, gebaut oder geplant. Dabei ist Wasserkraft zwar eine erneuerbare, aber nicht zwingend klimaneutrale und umweltfreundliche Energiequelle. Große Ströme – wie der Amazonas oder der Ganges – werden zunehmend und oftmals unumkehrbar verbaut. Weltweit könnte so bald jeder fünfte der verbliebenen, freifließenden Flüsse für Fische und andere Lebewesen nicht mehr durchwanderbar sein. „Dies stellt ein ernstzunehmendes Risiko für die einzigartige biologische Vielfalt in den betroffenen Regionen dar“, sagt Prof. Christiane Zarfl vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und von der Universität Tübingen, die die Ergebnisse jetzt in Kopenhagen präsentierte. Forscher fordern deshalb deutlich verbesserte Standards für die Errichtung und den Betrieb von Wasserkraftanlagen.
Mit der rasanten Nachfrage nach erneuerbaren Energien ist für die Wasserkraft eine neue Ära angebrochen. Investitionen in diesem Sektor haben sich binnen der letzten Jahre mehr als verzehnfacht. Allein der Bau dieser zukünftigen Anlagen wird geschätzte 1,5 Billionen Euro kosten. Der Boom ist vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern in Südamerika, Südostasien sowie Afrika zu spüren – und damit in jenen Regionen, die einen Großteil der biologischen Vielfalt unseres Planeten beherbergen. Gerade die Binnengewässer zählen zu den artenreichsten Ökosystemen weltweit. Schon heute ist diese Vielfalt stärker gefährdet als im Meer oder an Land. Zusätzliche Staudämme werden diesen Rückgang noch weiter beschleunigen, befürchten Wissenschaftler.
In vielen Regionen der Erde, auch in Deutschland, werden Flüsse unwiederbringlich verbaut
Heute tragen erneuerbare Energien bereits etwa 20 Prozent zur globalen Stromproduktion bei, davon stammen allein vier Fünftel aus Wasserkraft. Erneuerbare Energien gelten gemeinhin als umwelt- und klimafreundlich. Sie sind es allerdings nicht immer: „So unterbricht jeder Staudamm den Längsverlauf der Flüsse und verändert das Abfluss-, Sediment- und Temperaturregime. Der Sedimentrückhalt führt flussabwärts von Dämmen zur Eintiefung des Flussbetts, und aus den Stauseen, insbesondere in den Tropen, entweichen große Mengen an Treibhausgasen“, erklärt Prof. Zarfl, die zusammen mit Kollegen vom IGB und der Universität Osnabrück eine Studie dazu durchgeführt hat. „Zudem werden etwa 21 Prozent der heute noch freifließenden großen Flüsse in zehn bis zwanzig Jahren nicht mehr durchwanderbar sein.“ Dieser Effekt führe weltweit zum Verlust an Lebensräumen und Arten, so die Forscher. Besonders brisant sei die Lage in China, Brasilien, Indien und Nepal, aber auch am Balkan und in der Türkei. In der Amazonasregion, im La-Plata-Becken sowie in der Ganges-Brahmaputra-Region und im Yangtse-Becken sollen die meisten Staudämme errichtet werden.
In Europa boomt hingegen der Ausbau von Kleinkraftanlagen. „Diese tragen nur wenig zur Energiesicherung bei, „verbrauchen“ dabei aber überproportional viele natürliche Ressourcen in Form von freifließenden und durchwanderbaren Gewässerabschnitten”, sagt IGB-Direktor Prof. Klement Tockner, der die Forschung des Instituts auf dem Gebiet der Wasserkraft leitet. „Trotz EU-Wasserrahmenrichtlinie, in der ein Verschlechterungsverbot für Gewässer verankert ist, werden viele der selbst in Deutschland nur noch selten zu findenden freifließenden Bäche unwiederbringlich verbaut.”