Mojib Latif im Solarify-Selbst-Gespräch: „Bankrotterklärung der internationalen Klimaschutzpolitik“
“…also wenn Sie mich fragen: Warum nimmt kaum jemand die Bedrohung durch den Klimawandel wahr?
Unsere Welt wird zunehmend komplexer, vernetzter und schnelllebiger. Beim Klimaproblem handelt es sich um ein „Systemisches Risiko“. Also um ein Risiko, bei dem das einfache Ursache-Wirkung Prinzip nicht mehr greift. Unsere Welt ist inzwischen so undurchschaubar, dass wir bestimmte Risiken nicht mehr zu erkennen vermögen. Eine Eigenschaft der systemischen Risiken besteht nämlich darin, dass scheinbar unbedeutende Einflüsse die Welt förmlich aus den Angeln heben können. Was kann schon ein wenig mehr Kohlendioxid in der Luft anrichten? Es ist doch ein Spurengas, das nur einen kleinen Bruchteil eines Prozents zur Erdatmosphäre beiträgt! Wir sind offensichtlich nicht imstande, die dramatischen Folgen der schleichenden Erderwärmung zu erkennen. Sie wird sich nicht nur auf die Niederschläge oder die Meeresspiegel auswirken, sondern auch auf die Ökosysteme, die Weltwirtschaft wie auch die Sicherheitslage auf der Erde.
Warum scheitern regelmäßig die alljährlichen internationalen Verhandlungen über den Klimaschutz?
Seit Beginn der 90er Jahre treffen sich die Staaten regelmäßig, um darüber zu beraten, wie man der Herausforderung des globalen Klimawandels wirksam begegnen kann. Immer wieder ist zu vernehmen, dass man auf einem guten Weg sei, oder dass es gar Durchbrüche gegeben habe. Das ist reine Wortakrobatik und eine Verhöhnung der Menschen, die schon heute ganz besonders unter dem anthropogenen Klimawandel leiden oder in der Zukunft leiden werden. Der weltweite Ausstoß von Kohlendioxid ist seit 1990 um gut 60 Prozent gestiegen! Es gibt also keinen weltweiten Klimaschutz, bestenfalls einen „gefühlten“: man spricht miteinander, macht darum viel Wirbel, und das war es dann auch schon.
Der Grund des Versagens der Weltpolitik ist offensichtlich. Die Verursacher des Klimaproblems, die Industrieländer, werden Ihrer historischen Verantwortung nicht gerecht. Denn es sind nicht die aktuellen sondern die über viele Jahrzehnte kumulierten Treibhausgasemissionen, die auf das Klima Einfluss nehmen. Allein die USA zeichnen für etwa ein Viertel des Kohlendioxids verantwortlich, das wir heute in der Luft messen. Die Hauptverursacher der globalen Erwärmung sollten also bei der Minderung der Treibhausgasemissionen voran gehen. Nur dann wird der inzwischen größte Verursacher von Kohlendioxid, China, folgen. Dabei darf man nicht unberücksichtigt lassen, dass Länder wie China auch für die Industrieländer produzieren und letzteren damit in gewisser Weise die Emissionen abnehmen.
Warum das 2°C-Limit, auf das sich die Weltpolitik verständigt hat, eine Schande ist?
Das sogenannte 2°C-Limit, nach dem die Erdoberflächentemperatur bis zum Ende des Jahrhundert um nicht mehr als 2°C gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen soll, ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht zielführend. Der Klimawandel würde sich schließlich weiter fortsetzen. Der Ozean zum Beispiel ist eine sehr langsam reagierende Erdsystemkomponente, und das ist auch einer der wesentlichen Gründe für die Trägheit des Klimas insgesamt. Viele Auswirkungen der anthropogenen Klimaänderung werden nur sehr langsam in Erscheinung treten, weswegen das 2°C-Limit nicht ambitioniert genug ist, sondern lediglich eine politische Zielmarke. Die Meeresspiegel würden noch viele Jahrhunderte weiter steigen, möglicherweise würden auch einige Kipppunkte erreicht werden wie das unwiderrufliche Abschmelzen des Grönlandeises mit einem Meeresspiegelanstieg von sieben Meter im weltweiten Durchschnitt.
Aus streng wissenschaftlicher Sicht gleicht das 2°C-Limit einer Kapitulation vor den Herausforderungen des Klimaschutzes. Zu groß war bisher das Versagen der Weltpolitik. Der Anstieg der weltweiten Treibhausgasmissionen während der letzten Jahrzehnte ist, man kann es nicht anderes ausdrücken, eine Bankrotterklärung der internationalen Klimaschutzpolitik. Noch wäre es allerdings möglich, die Erderwärmung deutlich unter 2°C zu belassen. Dazu bedarf es allerdings eines couragierten Umbaus der weltweiten Energiesysteme, weg von den konventionellen hin zu den erneuerbaren Energien.
Prof. Dr. Mojib Latif, Meteorologe und Klimaforscher am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, beschäftigt sich seit Jahren mit der globalen Klimaveränderung. Seine Fachgebiete sind die jahreszeitliche und interannuale Variabilität, dekadische und Jahrhundert-Variabilität, anthropogene Einflüsse auf das Klima und Entwicklung von Modellen, Analyse und Vergleich mit Beobachtungen. Latif wurde 2000 mit dem „Max-Planck-Preis für öffentliche Wissenschaft“ ausgezeichnet. Er ist der mit Abstand meist gefragte Experte zum Thema und Gast in allen Medien; er veröffentlichte zehn Bücher – sein jüngstes: „Das Ende der Ozeane“.