Mojib Latif: Das Ende der Ozeane

Aus dem Vorwort:

„Dieses Buch über die Ozeane ist als Weckruf gedacht. Als Mahnung an uns alle, die Meere endlich zu schützen. Denn wir behandeln die Ozeane schlecht. So schlecht, dass die Meere inzwischen ächzen. Und wir Menschen bürden ihnen immer mehr Lasten auf: Die Ozeane leiden unter dem Klimawandel, unter den Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die Ozeane spüren zudem das Kohlendioxid ([[CO2]]), den Hauptverursacher der Erderwärmung – ein Gas, das wir in die Luft blasen, wenn wir Kohle, Öl oder Gas verbrennen, um Energie zu erzeugen –, in Form der Versauerung. So gesehen ist das [[CO2]] ein Umweltgift. Wir beuten die Meere ohne Gnade aus. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Überfischung. Mit unseren modernen Fangmethoden haben wir die globalen Fischbestände in einer Größenordnung dezimiert, womit noch vor ein paar Jahrzehnten niemand gerechnet hätte. Mindestens ein Drittel der weltweiten Fischbestände ist überfischt oder zusammengebrochen. Es könnten aber auch fünfzig Prozent sein.

Heute gelten fast neunzig Prozent der Bestände zumindest als gefährdet. Nach Angaben der Deutschen Umwelthilfe (DUH) waren im Jahr 2012 47 Prozent der untersuchten Fischbestände im Atlantik und achtzig Prozent der Bestände im Mittelmeer überfischt. Die Überfischung der Weltmeere ist ein ökologisches Desaster und eine ökonomische Sackgasse. Darüber sind sich die Experten einig. Wir versuchen, den Verlust der Nahrung aus dem Meer durch Aquakultur zu kompensieren, durch Farmen im Meer. Dabei begehen wir die gleichen Fehler wie bei der Massentierhaltung auf Land. Die Tiere werden auf viel zu engem Raum gehalten, und Krankheiten wird mit Tonnen von Antibiotika vorgebeugt. Eine nicht nachhaltige Aquakultur verseucht die Meere, das sollten wir bedenken, wenn wir spottbillige Meeresfrüchte kaufen.

Wir benutzen die Ozeane zudem als riesige Müllkippe. Ein spektakuläres Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: die Dreifach-Katastrophe aus Seebeben, Tsunami und Kernschmelze in Fukushima im März 2011. Seit der Reaktorkatastrophe sind Millionen Tonnen hoch verstrahlten Kühlwassers aus der japanischen Atomanlage in den Pazifischen Ozean gelangt. Niemand weiß genau, wie viel dieser Brühe bis jetzt ins Meer geflossen ist und immer noch fließt. Von den Verantwortlichen wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Die Betreiberfirma Tepco ist inzwischen zum Sinnbild einer Wirtschaftsweise geworden, die auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt. Schon gar nicht auf die Ozeane. Frei nach dem Motto: „Nach uns die Sintflut.“ Über die Langzeitfolgen der Radioaktivität wissen wir nur sehr wenig.

Die Menschen betreiben mit den Meeren in gewisser Weise ein gigantisches Experiment. Wie es ausgehen wird, können wir nicht vorhersehen. Wir kennen ja noch nicht einmal alle Lebewesen im Meer. Vermutlich birgt die Tiefsee Millionen noch unentdeckter Spezies, wenn man die Mikroben mit einrechnet. Die Zusammenhänge sind außerdem viel zu komplex. So kennen wir beispielsweise die Auswirkungen der Überfischung auf die gesamte marine Lebewelt nicht. Fische sind schließlich Teil von Ökosystemen. Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Es sollte also stets das Vorsorgeprinzip gelten. Wenn die Wissenschaft nicht ganz genau weiß, wie die Meeresökosysteme auf die vielen menschlichen Einflüsse reagieren werden, dann ist das schon für sich genommen ein sehr guter Grund dafür, die Ozeane nicht weiter dermaßen zu schinden, wie wir es während der letzten Jahrzehnte getan haben.

Die Belastbarkeit der Ozeane hat Grenzen. Wir sind dabei, sie auszuloten. Zum Teil haben wir sie schon längst überschritten. Egal ob Radioaktivität, Öl, Gifte, Plastik, Kunstdünger oder Abwässer: „Immer rein ins Meer“ – dieser Parole folgen wir unbeirrt. Unsere Unvernunft kann vielleicht sogar dazu führen, dass langsam einigen Meeresregionen buchstäblich die Luft ausgeht. Die Todeszonen der Meere, die Sauerstoffminimumzonen, wie die Wissenschaftler sie in ihrer langweiligen und nichtssagenden Sprache nennen, könnten sich ausdehnen. Weil sich das Wasser erwärmt oder die Meeresströmungen wegen der globalen Erwärmung vielleicht des Öfteren einen etwas anderen Weg nehmen könnten und dann die sauerstoffarmen Meeresgebiete noch seltener oder überhaupt nicht mehr aufsuchen würden, um das lebenswichtige Gas dorthin zu schaffen.

Wir machen außerdem eine Menge Lärm im Meer. Ja, wir lassen sogar Sprengsätze explodieren. Verursachen damit einen derart hohen Lärmpegel, den wir uns selbst niemals zumuten würden. Wie etwa bei der Suche nach den noch verbleibenden fossilen Energiereserven. Bei seismischen Untersuchungen des Meeresbodens werden „Schallwellen“ eingesetzt, die über mögliche Erdgas- und Erdölvorkommen Auskunft geben sollen. Wir Wissenschaftler haben eine seltsam abwiegelnde Sprache. Auf gut Deutsch würde man einfach nur von unerträglichem Krach sprechen, mit dem die Industrie den Meeresboden kilometertief erkundet. Diese Experimente werden mit sogenannten „Airguns“ durchgeführt, Druckluftkanonen also, mit denen man zeitlich aufeinander abgestimmte, extrem laute Explosionen erzeugt. Dabei handelt es sich um Druckluftknalle mit bis zu 265 Dezibel. In Wohngebieten sind in Deutschland nachts gerade mal 35 Dezibel erlaubt. Die enormen Druckwellen werden typischerweise alle zehn Sekunden abgefeuert, 24 Stunden am Tag, und das über Wochen oder sogar Monate. Das verletzt oder tötet auf der Stelle viele Lebewesen in der unmittelbaren Nähe der Detonationen, führt dazu, dass viele Meeresbewohner ihre Habitate verlassen, und beeinträchtigt natürlich auch den Fischfang in diesen Gewässern.

Findet man das ersehnte Öl oder Gas, geht die Umweltzerstörung erst richtig los. Dann nimmt der Wahnsinn seinen Lauf. Wen stört schon der Austritt von Öl am Meeresboden. Wir sehen es ja schließlich nicht. Und erzählen wird es uns auch niemand, zumindest nicht freiwillig. Es sei denn, das Öl kommt an die Oberfläche und verschmiert ganze Küsten, wie zuletzt 2010 im Golf von Mexiko. Auf hoher See lassen Schiffe pausenlos illegal Öl ab. Das ist ein offenes Geheimnis. Zuletzt wurde uns dieser Sachverhalt im März 2014 vor Augen geführt, als man nach der verschollenen Boeing der Malaysia Airlines im Indischen Ozean suchte und eine kilometerlange Ölspur sichtete, von der man anfänglich annahm, dass es sich um die Absturzstelle des Jets handeln könnte. Wie sich allerdings schnell herausstellte, stammte das Öl von einem Schiff, ein alltäglicher Vorgang, der sich vermutlich jedes Jahr tausendfach im offenen Ozean wiederholt, ohne dass es jemand mitbekäme.

Die industrielle Ausbeutung der Ozeane hat ein Ausmaß erreicht, das die marinen Ökosysteme aufs Äußerste beansprucht oder ganz zerstört. Die Küstengebiete sind enormen Belastungen ausgesetzt, gerade dort tritt die Funktion der Ozeane als Mülldeponie deutlich hervor.“

Mojib Latif: Das Ende der Ozeane – Verlag: Herder, Freiburg, 2014;
Ausstattung/Bilder: 2014. 240 S. m. 10 Abb. 205 mm; 319 Seiten
ISBN-13: 9783451312373- ISBN-10: 3451312379

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