Sieben Anforderungen: Hervorragende Grundlage für Diskurs und weitere Befassung
In diesen sieben Anforderungen an das Wissenschaftssystem aus dem Positionspapier des Wissenschaftsrats sieht Marquardt „eine hervorragende Grundlage für den Diskurs und eine weitere Befassung“. Allerdings werde die Empfehlung konkreter Instrumente und Maßnahmen vermieden und es stelle sich für ihn die Frage, warum „eine solche Konkretisierung nicht doch vorgenommen wurde“. Über die Gründe könne spekuliert werden.
Marquardt weiter: „Jede Art von Forschung muss sich durch Relevanz und Wirksamkeit zumindest im innerwissenschaftlichen Diskurs auszeichnen. Originalität kann nicht alleine ausschlaggebend für gute Wissenschaft sein. Bei den wissenschaftlichen Beiträgen zur Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen wird erwartet, dass die Forschungsergebnisse gesellschaftlich relevant sind und in der Gesellschaft wirksam werden. Damit werden unmittelbare oder wenigstens mittelbare Nutzbarkeit und Nützlichkeit von Forschungsergebnissen auf welcher Zeitskala auch immer in den Blick genommen. Offensichtlich kann und darf nicht jede wissenschaftliche Tätigkeit an dem Gebot der Nützlichkeit orientiert werden, ein Teil der Aktivitäten im Wissenschaftssystem muss das aber schon. Diese Forderung muss keinesfalls im Widerspruch zur ergebnisoffenen Grundlagenforschung stehen – wenn sich nämlich grundlagenorientiert arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren kühnsten Träumen die erhofften Forschungsergebnissen als Beiträge mit gesellschaftlicher Wirkung vorstellen, und sich mit diesem Ziel im Auge bei der Zuspitzung des Forschungsgegenstands und der Auswahl der Forschungsmethodik leiten lassen.“
Fraglos bedürfe es spezifischer Instrumente, um in die Gesellschaft hineinzuwirken, z. B.
- für das Förderhandeln wie auch für den Forschungsprozess,
- für die Ausgestaltung von Transdisziplinarität und Partizipation,
- für die Komposition von Forschungsverbünden und in deren Steuerung und Koordination,
- in der Hochschulbildung und bei der Nachwuchsqualifizierung,
- oder in Bewertungs-, Belohnungs- und Reputationssystemen.
Ganz sicher reiche es nicht aus, wenn „nur“ die für gute Wissenschaft unerlässlichen Kreativitäts- und Handlungsfreiräume erhalten und gestärkt würden.
Drei Leitbilder
Marquardt wies großen gesellschaftlichen Herausforderungen für die Orientierung der Wissenschaft „Leitbildcharakter“ zu. Er sehe seit der Mitte des letzten Jahrhunderts drei große Leitbilder in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik:
- Nach dem Krieg der Fortschrittsmotor Grundlagenforschung (resultierend aus der Abhandlung Science – The Endless Frontier des US-Ingenieurs Vannevar Bush von 1945);
- in den 80ern die Fokussierung der Wissenschaft auf Innovationsprozesse, auf Umwandlung von Wissen in Geld also (Ziel: Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit durch Wissenschaft);
- seit etwa 2000 zunehmend wahrnehmbar die Ausrichtung der Wissenschaft auf große gesellschaftliche Herausforderungen – sie passe „sehr gut in diese Reihe, die auf die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft und damit auf das Wohlergehen der Menschen ausgerichtet“ sei.
Dies sei – so Marquardt – keine Sequenz einander zeitlich ablösender und ausschließender, sondern „im Sinne einer Differenzierung der Wissenschaft und ihrer Beiträge ergänzender wissenschaftlicher und wissenschaftspolitischer Leitbilder“ – oder dreier unterschiedlicher Perspektiven auf den gleichen „Gegenstandsbereich“ , die Wissenschaft, nämlich: „eine innerwissenschaftliche Perspektive, eine an nationalen Grenzen orientierte volkswirtschaftliche Perspektive und eine nachhaltigkeitsorientierte globale Perspektive.“
Marquardt sah damit verschiedene Metriken zur Bewertung der Wirksamkeit von Wissenschaft verbunden:
- die Bibliometrie messe die innerwissenschaftliche Rezeption wissenschaftlicher Publikationen in der Grundlagenforschung,
- die mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Wirtschaft zu erzielende Wertschöpfung,
- die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen durch die Beiträge der Wissenschaft zur nachhaltigen Entwicklung (Zieleabgleich zwischen Ökonomie, Ökologie und gesellschaftlichem bzw. persönlichem Wohlergehen).
Ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem – so Marquardt – sollte alle drei Leitbilder gleichzeitig und gleichermaßen ausfüllen: „Die Wissenschaft sollte künftig die von der Gesellschaft eingeforderte Orientierung an großen gesellschaftlichen Herausforderungen ernster als bisher nehmen, wenn sie das in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen und ihre Legitimation nicht verspielen will“.
Weiter forderte Marquardt, dass Wissenschaftspolitik und Wissenschaft die im Positionspapier formulierten allgemeinen Anforderungen ernster nehmen und die dazu erforderlichen Veränderungsprozesse anstoßen sollten. Die Wissenschaft könne dann zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen effizient und effektiv beitragen, wobei der Entwicklung von Bewertungsmaßen hohe Bedeutung zukomme. Verschiedene Formen von Forschung oder von Forschungsprozessen dürften aber nicht gegeneinander ausgespielt werden – sonst werde das Potenzial der Wissenschaft nicht ausgenutzt, die nötigen Beiträge der Wissenschaft zur Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen vielleicht gar nicht geleistet; dann werde es nämlich „nur Verlierer geben – die Gesellschaft, weil das wissenschaftliche Potenzial zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht voll ausgeschöpft wird, die Wissenschaft, weil sie die Gelegenheit nicht genutzt hat, ihre gesellschaftliche Legitimation zu stärken, und die Wissenschaftspolitik, weil sie die Chance vergeben hat, die Bedeutung dieses Politikfeldes in den Kabinetten der Bundes- und Landesregierungen zu unterstreichen und eine Prioritätensetzung für Bildung und Forschung überzeugend einzufordern.“
Auf Nachfrage von Huthmacher erklärte Marquardt: Nur wenn man Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft zusammensehe, sich im Diskurs miteinander über Leitplanken und Korridoren klarwerde, könne man sich auf das Ziel zubewegen – „nur aus dem Unvorhersehbaren entstehen große Erkenntnisse, die dann zum Selbstläufer werden hin zu neuen Technologien im Sinn der nachhaltigen Entwicklung.“
Folgt: Hacker: SDGs und Forschung