Atomballett in Zeitlupe

Die Idee: Femtosekunden-Elektronenblitze statt Laserpulse

Dwayne Miller kam deshalb vor Jahren auf die Idee, die Pump-Probe-Methode abzuwandeln. Er ersetzt in seiner Filmkamera für Molekülbewegungen den zweiten Laserblitz durch einen Femtosekunden-Elektronenblitz. Elektronen bieten den Vorteil, dass sie die Lage der Atome in Molekülen direkt abbilden können. Als Quantenteilchen besitzen sie wie Lichtquanten Welleneigenschaften. Doch ihre Wellen sind schon bei geringer Bewegungsenergie so kurz, dass sie problemlos einzelne Atome erfassen und abbilden können. Erzeugen lassen sie sich auf einfache Weise in kompakten Geräten. „Das sind echte Tischexperimente“, sagt Stuart Hayes.

„Trotzdem sind unsere Elektronenkanonen so hell, dass sie die molekulare Struktur in einem einzigen Schuss einfangen können“, ergänzt Miller. Viele Kollegen hätten lange angezweifelt, dass die Methode mit Elektronen funktioniert. Elektronen stoßen sich nämlich wegen ihrer elektrisch gleichen Ladung heftig gegenseitig ab. Dadurch droht eine ursprünglich kompakte Wolke aus einigen tausend Elektronen auf dem Weg zur Probe auseinander zu fliegen. Sie droht die Probe zu lange zu beleuchten, sodass die kurze Blitzzeit, die für eine Femtosekunden-Auflösung nötig ist, nicht erreicht würde. Millers Gruppe löste dieses Problem, indem sie die Flugzeit der Elektronenwolke verkürzte, die Elektronenzahl optimierte und eine Art Optik für Elektronen einsetzte.

Ein Material, das zwischen sich zwischen Isolator und Metall umschalten lässt

Mit dieser Technik haben die Hamburger Wissenschaftler nun ein neues molekulares Material untersucht: Me4P[Pt(dmit)2]2, das kürzlich am japanischen RIKEN-Forschungsinstitut entwickelt wurde. Diese Substanz gehört zu einer interessanten Materialfamilie, deren elektrische Eigenschaften sich zwischen Isolierend, metallisch leitend und in einigen Fällen sogar supraleitend umschalten lassen. Das Umschalten geschieht durch Temperatur oder Druck und wird Phasenübergang genannt. Phasenübergänge kennen wir im Alltag zum Beispiel von Eis, das mit wachsender Temperatur zu Wasser schmilzt. Japanische Wissenschaftler um Tadahiko Ishikawa vom Tokyo Institute of Technology beobachteten kürzlich Folgendes: Me4P[Pt(dmit)2]2 kann unter Laserlicht seine Eigenschaften genauso wechseln wie in einem durch eine Temperaturänderung verursachten Phasenübergang. Dabei wird es von einem elektrischen Isolator zu einem Metall.

Diese Fotoschaltung der Materialeigenschaften können die Forscher nur genau verstehen, wenn sie im Detail verfolgen können, wie sich die einzelnen Atome in den Molekülen verhalten. Genau diese Bewegung haben die Hamburger Wissenschaftler nun erfolgreich abgelichtet. „Wir sehen diese Atome in ihrer Bewegung ganz klar“, sagt Miller, „wie Sterne am Nachthimmel.“ Dabei zeigte sich, dass nur bestimmte Gruppen von Atomen im Kollektiv wenige, koordinierte Schlüsselbewegungen machen, um die Eigenschaften des Materials zu verändern. Genau das ist für Miller die entscheidende Erkenntnis: Die vielen zigtausend Möglichkeiten reduzieren sich auf ein paar einfache, grundlegende Tanzfiguren des atomaren Balletts.

Durch visuelle Beobachtung lassen sich chemische Prozesse besser verstehen

Für Miller bedeutet der Durchbruch zu bewegten Bildern eine konzeptionelle Revolution in der Chemie. Indem die Forscher solche einfachen Bewegungsmuster durch visuelle Beobachtung dingfest machen, können sie chemische Prozesse viel besser verstehen. Der Professor vergleicht das Spielfeld der Möglichkeiten einer chemischen Reaktion mit Tausenden von involvierten Atomen mit einer Berglandschaft. Die Täler repräsentieren verschiedene, stabile Molekülstrukturen. Will sich eine Struktur in der Reaktion verändern, dann muss sie über die Gipfelregionen hinweg in eines der Nachbartäler gelangen. „Dabei reduzieren sich die vielen Möglichkeiten auf einen Passpfad, der am besten zugänglich ist“, erklärt Hayes. Diese Pfade entsprechen den wenigen Grundfiguren des Molekültanzes, den die Videos zeigen.

„Unser jüngster Molekülfilm ist die Krönung jahrelanger Arbeit“, sagt Miller begeistert: „Ich könnte ihn immer wieder ansehen.“ Wer weiß, vielleicht werden solche Aufnahmen in der Geschichte der Chemie eine ähnliche Bedeutung gewinnen die ersten Filme der Gebrüder Lumière für uns, die erstmals unser Leben in Bewegung einfingen. (RW)

->Quelle: mpg.de/femtochemie-film-molekuel