Stadermann: Es gibt Einschätzungen, dass es der Wissenschaft nicht bzw. nur unzureichend gelingt, in zentralen Existenzfragen der Menschheit – Klimaproblematik, Artensterben, Umweltvergiftung, Energiearmut, die Politik nachhaltig zu beeinflussen. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?
Hennicke: Wenn man sich die Geschwindigkeit der eigentlich notwendigen Transformation anschaut, ist eine wachsende Umsetzungslücke zu erkennen zwischen dem, was Wissenschaft weiß und was realisiert wird; zum Beispiel zwischen dem, was der IPCC erneut und immer alarmierender der Politik und der Öffentlichkeit vorstellt und dem was an verbindlichen Umsetzungsschritten für den Klimaschutz erfolgt. Da gibt es eine riesige Kluft. Ich glaube, dass es Aufgabe der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre sein wird, einen neuen Typ von Wissenschaft zu schaffen;, den wir Transformationsforschung nennen, d.h. sich neue Methoden und Verfahren zu überlegen, wie man notwendige, zielorientierte sozioökonomische und ökologische Prozesse mit wissenschaftlichen Impulsen beschleunigen kann.
Mein Lieblingswort hierfür war früher: Implementierungsforschung. Heute bin ich hoffentlich ein Stückchen klüger geworden, denn die Konnotation von Implementierungsforschung suggeriert zu sehr, dass wir alles über die Richtung schon wissen und anscheinend die Ziele nur noch durch Implementierung erreichen müssen. Das ist jedoch im Kern ein technokratischer Ansatz. Ein Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis muss im Sinne von Citizen Science über zivilgesellschaftliche Netzwerke ständig neu entwickelt werden und gleichzeitig muss Wissenschaft breiter vermittelt werden in die Zivilgesellschaft. Von dort muss der Druck aufgebaut und Innovationen zur gesellschaftlichen Veränderung entwickelt werden, z.B. in Stadteilen, in dezentralen Unternehmensformen und –netzwerken, über Gewerkschaften, über Kirchen und Schulen, weil wir Tempo aufnehmen müssen in Richtung auf eine wirklich große gesellschaftliche Transformation (WBGU). Die Umsetzungslücke zwischen Wissen und Handeln oder Wissenschaft und politischen Entscheidungen wächst leider derzeit noch in die falsche Richtung, das ist ein echtes Problem.
Stadermann: In diesem Zusammenhang auch einen Glückwunsch, dass Sie jetzt Vollmitglied beim Club of Rome sind, das ist ja eine bedeutende Stellung. Welchen Einfluss werden Sie haben oder welchen wünschen Sie sich nun auf globaler Ebene?
Hennicke: Wir bilden im Moment so eine Art „Trio Infernale“ im Club of Rome, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkman und ich (aber auch andere), die in diesem Gremium wie die Löwen für die Energie- und Ressourceneffizienz kämpfen. Ich glaube, dass das enorme Wissenspotenzial von internationalen Expertengremien wie dem Club of Rome noch viel zu wenig genutzt wird. Es gibt ja den sogenannten „Bericht an den Club of Rome“, diese Begrifflichkeit sagt schon viel über die Art und Weise, wie kommuniziert wird: Es gibt einen neuen Bericht an den Club of Rome, erwähnt die Presse in einem Dreispalter. Na und? fragen sich die Leute. Statt umgekehrt vorzugehen: der Club of Rome hat wesentliche Erkenntnisse und die kommunizieren wir jetzt in die Gesellschaft hinein. Das ist sicher auch ein Finanzierungsproblem, aber ein Bericht an den Club of Rome, klingt so ein bisschen gottväterlich und seltsam antiquiert. Wir berichten der höchsten Expertenautorität weltweit und kümmern uns nicht darum, was die dann damit macht?
Noch einmal: Umsetzen tut doch Not! Ich war zum ersten Mal 2014 in Mexiko dabei, wo Energie das Schwerpunktthema der Jahrestagung des Club of Rome war. Ich hatte den Eindruck, die Kombination mit einem so großartigen Experten, wie Thomas Johannson, der über Erneuerbare Energien dort referiert hat und mit mir als dem sogenannten Energieeffizienzpapst, der gepredigt hat über Energieeffizienz, war gar nicht so schlecht! Jedenfalls war die Resonanz positiv. Ich glaube, die vorausdenkende Art, wie sie Ernst Ulrich von Weizsäcker in Kombination mit einem so herausragenden Politiker und Experten, wie Anders Wijkman in den Club hineinträgt, war auch bei diesem Arrangement sehr wirksam. Wijkman kommt aus Schweden und saß für eine konservative Partei im europäischen Parlament. Mit seiner exzellenten Expertise und Eloquenz wirkt er in ökologischen Fragen ins konservative Lager hinein und weit über die üblichen Netzwerke der Umweltaktivisten hinaus. Er ist seit 2012 zusammen mit Ernst Ulrich von Weizsäcker Co-Präsident des Club of Rome und beide haben in Richtung aktive Kommunikationsstrategie des Club of Rome schon einiges auf den Weg gebracht.
Stadermann: Sie sind ja Ökonom, Herr Hennicke – hat es nach 1986 – also nach Tschernobyl – aus ökonomischem Blickwinkel einen Wandel im Wirtschaftssystem in Richtung Nachhaltigkeit gegeben? Können Sie so etwas für die Ökonomie diagnostizieren?
Hennicke: Meine Zunft war für mich immer Anlass für eine gewisse Hassliebe. Ich weiß, ohne Ökonomie funktioniert diese Gesellschaft nicht, aber ohne eine vernünftige wissenschaftliche Erklärung und Gestaltung, wie Ökonomie funktionieren sollte, werden die gesellschaftlichen Probleme nicht lösbar sein. Da sind im hohen Maße neue wissenschaftliche Impulse auch von Ökonomen notwendig. Die Impulse, die bisher von der ökonomischen Wissenschaft kamen, ich spreche vom Mainstream, waren teilweise in ihrer Wirkung verheerend (z.B. hinsichtlich der Finanzwirtschaft) und teilweise praxisferne Glasperlenspiele. Viele Ökonomen verfolgen mit ihrer hohen Modellabstraktion nicht wirklich den Anspruch, die Ökonomie problemlösungsorientiert zu diagnostizieren, z.B. die großen finanzwirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir offensichtlich stehen, zumindest zu dämpfen, ökonomische Instrumente und Erklärungen zu entwickeln, wie Krisen eingedämmt werden können. Wenn man sich die krisengeschüttelte , globalisierte kapitalistische Ökonomie anschaut, dann hat sich durch die fatale Auseinanderentwicklung zwischen exorbitant wachsendem Finanzvermögen und schwacher Realwirtschaft eine Erblast und ein Krisenpotenzial aufgetan, mit dem ich mich eigentlich nochmal richtig beschäftigen möchte, weil ich das für das Haupthindernis einer realen Transformation halte.
Es geht darum, sozusagen den Geist aus der Flasche – das Finanzkapital – wieder einzufangen und in eine realwirtschaftliche nachhaltige Akkumulation zu überführen. Ich bin geprägt durch die Studentenbewegung der 68er und von daher immer kritisch gewesen, was den Kapitalismus als Wirtschaftssystem angeht. Ich habe mir aber angewöhnt zu sagen: man kann das Wirtschaftssystem nur dann ändern, wenn man gesellschaftliche Kräfte und demokratische Mehrheiten sieht, die die Probleme einer Wirtschaftsordnung grundsätzlich lösen wollen. Die sehe ich augenblicklich nicht. Deswegen frage ich heute als Ökonom etwas bescheidener: Können Politik und Zivilgesellschaft einer vorwiegend privaten Profit- und Konkurrenzwirtschaft wirklich eine nachhaltigere Richtung geben? Wie kann man reale Kapitalakkumulation, Verwertungszwänge, Wettbewerb tatsächlich durch gesellschaftlich gesetzte Leitplanken und Ziele sowie durch Druck der Zivilgesellschaft in eine Richtung steuern, dass sie menschen- und naturverträglicher sind? An diesen und ähnlichen Fragen möchte ich mich gern noch abarbeiten. Aber jetzt zu bewerten, ob wir damit in Deutschland ein Stückchen vorangekommen sind, ist schwierig, weil es extrem widersprüchliche Entwicklungen gibt. Wir haben tatsächlich weit mehr verantwortliches Unternehmertum als früher, nicht nur im Sinne von „Greenwashing“, zumindest in einigen Branchen. Zwischen den Verantwortlichen, die dort Kapital, Produkte und Arbeitsprozesse managen und der heutigen Vielfalt sozialökologischer Ansätzen und Überzeugungen, gibt es viel weniger Divergenzen als früher.
Früher erschien das globale Kapitalinteresse grundsätzlich als Widerspruch zum Arbeits- und Naturinteresse. Bei kapitalistischem Wirtschaften, so die damalige Einschätzung, geht es mehr oder weniger um private Gewinnmaximierung und eine ungebremste Externalisierung von Kosten zu Lasten von Um-, Mit- und Nachwelt. Heute hat in den Chefetagen die Bereitschaft zweifellos zugenommen, über die Fabrikgrenzen hinaus die Bedingungen, die man für andere schafft, zu reflektieren und mehr Verantwortung über Zweck und Wirkung der Kapitalverwertung zu übernehmen. Aber eine wachsende einzelwirtschaftliche Verantwortlichkeit beseitigt nicht die irrationale weltwirtschaftliche Divergenz zwischen Finanz- und Realwirtschaftssystem und auch nicht die Zwänge des globalisierten Wettbewerbs.
Ich sehe im Moment noch nicht, wie das entfesselte Finanzkapital ohne größere Krise wieder zum Nutzen nachhaltiger Entwicklung eingefangen werden kann. Ich sehe im politischen und wirtschaftlichen Mainstream noch wenig Bereitschaft für die notwendigen einschneidenden Reformen und Regulierung. Es gehen zwar Aktivitäten in die richtige Richtung, aber nicht in der notwendigen Intensität und Breite. Zum Beispiel: Die Auflösung von Steueroasen, die Steuerung von Finanzkapitalprozessen durch eine Finanztransaktionssteuer, Einkommens-,Vermögens- und Erbschaftssteuern zur Reduktion der wachsenden ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung und was es alles noch an vernünftigen Vorschlägen für mehr Gerechtigkeit und sozialverträgliche Leitplanken gibt. Da flackert die öffentliche Diskussion immer mal wieder auf und dann versackt sie wieder.