Stadermann: Das geht schon in die Frage über: Wie stellen Sie sich eine Forschung für die Zivilgesellschaft, also im öffentlichen Interesse vor?
Hennicke: Ich vermute, dass man auch neue Formen der Institutionalisierung dafür braucht, aber darüber habe ich noch zu wenig nachgedacht, wie die sein könnten, ohne dass sie sich wieder gegenüber der Gesellschaft verselbständigen. Enquete-Kommissionen waren und sind für mich, wie dargestellt, interessante Ansatzpunkte der themenbezogenen Politikberatung. Forschungs-Enquete-Kommissionen, die neue Forschungsschwerpunkte thematisierten und zwar nicht nur deutsche, sondern vor allem auch europäische und internationale, könnten interessant sein. Wir haben ja auch in der Forschung ein Mehrebenensystem mit der Europäischen Union. Es wurden Großforschungskompetenzen externalisiert und auf die EU übertragen, bei denen wir noch weniger durchschauen, was dort eigentlich von wem in welche Richtung geforscht wird. Es ist auch nicht einfach, sich vorzustellen, wie man den Alltagsverstand, der oft viele kluge Ideen hervorbringt, direkt in die Diskussion über Forschungsprogramme einbindet. Je abstrakter und je grundlagenorientierter die Forschung wird, desto schwieriger ist das natürlich, da braucht man Vermittlungsglieder. Ich denke, man muss in einem gestaffelten Forschungssystem bei der Ausbildung an den Universitäten beginnen und man muss Gelegenheiten für die Zivilgesellschaft schaffen, sich unsere Großforschungseinrichtungen immer wieder genauer anzuschauen. Sozusagen durch eine Vielzahl von Tagen der „offenen Tür“. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, Forschungsinstitute nicht nur durch den „Gottvater-Wissenschaftsrat“ evaluieren zu lassen, sondern auch die gesellschaftliche Relevanz der Forschungsfragen und –ergebnisse kontinuierlich einer kritischen Öffentlichkeit vorzustellen. Diese Art der öffentlichen Rechenschaftslegung könnte dazu genutzt werden, in einem Reflexionsprozess mit den Forschern zusammen über den Sinn und die Auswirkungen von Forschungsfeldern sowie über die Verantwortlichkeit von Forschung zu debattieren.
Stadermann: Welche Rolle sollten die Geisteswissenschaften spielen? Wie sollte oder könnte transdisziplinäre Forschung oder auch Energieforschung aussehen?
Hennicke: Ich finde, dass ein komplementärer Prozess zu einer relativ unkritischen Technologieforschung sich im sozialwissenschaftlichen Bereich abgespielt hat. Der fehlende wissenschaftliche Biss, den Problemen wirklich an die Wurzel zu gehen, also eine gewisse Radikalität auch im Fragen und im Forschen, ist aus meiner Sicht auch ein Mangel in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dann darf man sich als Sozialwissenschaftler auch nicht wundern, dass man nicht wirklich ernst genommen wird, wenn man zu einem Diskurs beiträgt, der mitunter die Probleme unter den Tisch kehrt, statt sie wirklich auf den Tisch zu legen und sie in gesellschaftlich kontroversen Dialogen transparent zu machen. Natürlich müssen kritische Sozialwissenschaften zusammen gehen mit technologischen Entwicklungen und eine viel größere Rolle spielen, gerade jetzt bei der Umsetzung der Energiewende. Aber auch die Sozialwissenschaft muss sich in Bezug auf einen Transformationsprozess neu aufstellen und in gewisser Weise auch eine sozialwissenschaftliche Wende vollziehen, wenn sie von dem Anspruch ausgeht: Wir sind nicht nur die ex post-Erklärer von gesellschaftlichen Prozessen, sondern wir wollen mithelfen bei zukünftigen Veränderungen. Für mich ist die 11. Feuerbachthese von Karl Marx höchst aktuell: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern“. Das ist für mich noch immer ein relevantes Grundcredo für Sozialwissenschaft: Wenn Sozialwissenschaft nicht mehr dadurch geführt, angeleitet und inspiriert wird, dann wird sie entweder apologetisch oder irrelevant oder in sich kreisend oder – im bestens Fall – gehobene bildungsbürgerliche Erbauung. Ich will jetzt nicht behaupten, das sei generell so der Fall, aber wünschenswert wäre schon, dass die Sozialwissenschaften viel intensiver zum komplementären und kritischen Begleiter einer transformativen Technologie- und Grundlagenforschung werden.
Stadermann: Ist Forschung mit Bürgerbeteiligung notwendig und möglich? Können Sie sich eine Forschung mit Bürgerbeteiligung vorstellen?
Hennicke: Im Englischen gibt es ja jetzt diesen Begriff und die Vision einer Citizen Science, die aber nach meiner Wahrnehmung noch nicht wirklich ausgefüllt sind. In gewisser Weise verweisen sie eher noch auf einen Wunsch und eine gewissen Ahnung davon, dass Bürgerbeteiligung eine viel stärkere Rolle spielen sollte, auch in der Festlegung von Forschungsprioritäten, -mitteln, -themen. Das ist wirklich keine einfache Aufgabe, und je nach Schwierigkeits- und Komplexitätsgrad des Forschungsfeldes kann man nicht den häufig zwar sehr klaren, nüchternen und problemorientierten Sachverstand wissenschaftlich unausgebildeter Bürger zur Lösung komplexer Fachfragen einfach zusammenschnallen mit hochkarätigen Grundlagenwissenschaftlern. Das funktioniert nicht sofort und verlangt gemeinsames Sammeln von Erfahrungen. Ein positives Beispiel für mich ist der Szenarien-gestützte Dialog mit Stakeholdern in NRW bei der Erstellung des Klimaschutzplanes und der Formulierung von Umsetzungsvorschlägen. Hier hat die Anwendung von Szenarientechnik durch Fachexperten des Wuppertal Instituts im Verbindung mit Stakeholder-Dialogen auch zur Konsensbildung beigetragen.
Oberzig: Aber kann man die Frage nach der Bürgerbeteiligung nicht auch etwas anders formulieren, nämlich als die nach der Zivilgesellschaft? Ich stelle mal die These auf, wenn es um Wissenschaft und Forschung im Zusammenhang mit der Energiewende geht, gibt es eine viel stärkere Verzahnung mit der Zivilgesellschaft als z.B. bei der Pharmaforschung.
Hennicke: Ja – das ist offensichtlich der Fall. Eine spannende Frage stellt sich dabei: Warum ist das so, obwohl es bei Pharmaforschung zweifellos auch um die Vermeidung oder Eindämmung, manchmal aber auch um die Verlagerung, existentieller menschlicher Risiken geht?