Hervorragende TV-Doku auf arte
Solarify empfiehlt selten Filme, aber „Die Große Stromlüge“ von Cécile Allegra, Patrick Dedole und ihrem Kameramann Cédric Terrasson ist eine Dokumentation, die einem unter die Haut geht. Ein Film, so Hans-Josef Fell, „den jeder sehen muss, der verstehen will, warum es den Erneuerbaren Energien in der EU und Deutschland so schlecht geht“. Das findet Solarify auch.
Allegra und Dedole beginnen mit einem anrührenden Beispiel für Energiearmut in Großbritannien, denn Frost und Kälte fordern auch in Europa noch immer Todesopfer – aber in den vergangen Jahren wurde eine längst überwunden geglaubte Gefahr wieder aktuell: Vielen Menschen fehlt das Geld, ihre Wohnungen ausreichend zu heizen. Stromarmut betrifft mittlerweile jeden Zehnten in der EU. „Günstigere und umweltfreundlichere Energie“ hatten die Mitgliedstaaten einst versprochen. Was ist aus der vielversprechenden Idee eines gemeinsamen und transparenten Energiemarkts geworden – und warum sind die Stromrechnungen noch immer so hoch?
Zur Beantwortung der Eingangsfragen geht die arte-Doku weit zurück und beschreibt die Entwicklung des EU-Strommarktes seit Thatchers sogenannter Marktliberalisierung Ende der 80er Jahre. In sechs ausführlichen Kapiteln konzentriert sich die Autorin auf einzelne Staaten, die jeweils exemplarisch die Probleme der EU-Energiepolitik verdeutlichen. Ausgangspunkt sind dabei immer die schwächsten Glieder der Kette: Bürger, die im Prozess der Liberalisierung den Fehlentwicklungen zum Opfer gefallen sind.
Durch steigende Strompreise sind viele Privathaushalte in der EU überlastet: In Spanien betrifft dies sogar ein Drittel der Bevölkerung. In Italien konnten im Jahr 2015 fünf Millionen Familien ihre Stromrechnung nicht begleichen, in Deutschland waren es sieben und in Frankreich sogar acht Millionen Menschen. „Günstigere und umweltfreundlichere Energie“ hatten die EU-Mitgliedstaaten vor 20 Jahren versprochen. Doch was ist aus der vielversprechenden Idee eines gemeinsamen und transparenten Energiemarkts geworden?
Fluch der Braunkohle
Zahlt der Verbraucher für jahrelange politische Fehlentscheidungen? In Deutschland hat man zwar den Atomausstieg beschlossen, muss aber dennoch auch weiterhin Braunkohletagebau betreiben, was nicht nur zulasten der Umwelt geht, sondern Zwangsumsiedlungen ganzer Ortschaften zur Folge hat. Das zeigt Allegra am Beispiel von Lars Zimmer, des letzten Einwohners von Immerath – einer geisterhaft leeren Ortschaft bei Düsseldorf, wo inzwischen nur noch wenige Häuser stehen – bald wird die Gemeinde dem Braunkohletagebau Garzweiler zum Opfer gefallen sein – auch das Haus von Lars Zimmer.
In Spanien investierten Tausende Privatleute, deren Rettung auf keiner Prioritätenliste steht, in eigene PV-Anlagen und trugen so zum energetischen Wandel bei. Die Regierung hatte versprochen, ihnen den Strom zu fairen Preisen abzunehmen. Einige Jahre später überlegte sie es sich anders, sodass die Besitzer draufzahlen mussten und nun hoch verschuldet sind. Gleichzeitig flossen Milliardenbeträge an die großen spanischen EVU, , die aber nur zu einem Bruchteil dort ankamen, vorgeblich, um den Übergang zu mehr Erneuerbaren Energiequellen vorzubereiten. Inzwischen musste Energieminister Soria wegen seiner Lügen und Verwicklungen in die Panama-Briefkästen zurücktreten – an dergleichen O-Tönen (und daran, dass zwar Kyoto vorkommt, nicht aber Paris und die COP21) merkt man, dass der Film nicht mehr brandaktuell ist, aber das tut seiner Botschaft und Information keinen Abbruch.
In Frankreich hat das ehemalige Staatsunternehmen EDF bis heute eine Monopolstellung inne. Dies verstößt nicht nur gegen den freien Wettbewerb in der EU, sondern verwehrt Tausenden Franzosen, die gerne ihre eigene Energie produzieren würden, die Loslösung vom staatlichen Netzbetreiber. Allegra und Michel durchleuchten die verschiedenen Versprechen, die im Namen eines liberalen europäischen Energiemarkts gemacht wurden, und analysieren kenntnisreich die Hintergründe für das Scheitern dieser europäischen Vision.
„Ob künftige Generationen klüger sein werden als wir?“
Die Frankfurter Rundschau in einer Rezension: „Die Konzentration auf die Verlierer ist mehr als nur ein Human-Interest-Ansatz, um trockenen Statistiken mehr emotionales Gewicht zu verleihen. Die Menschen, die der Film vorstellt, bekommen viel Raum, sie dürfen rhetorische Umwege beschreiten, stammeln oder schweigen, sie werden nicht in überdeutliche Musik gekleidet, und gerade dadurch wird die tragische Tiefe dieser Schicksale spürbar. An ihnen zeigt sich im Kleinen das asymmetrische Machtverhältnis im Kapitalismus, das sich im europäischen Strommarkt seit Beginn der Liberalisierung noch weiter in Richtung der ohnehin schon mächtigen Akteure verschoben hat.“
Die Schlussfolgerungen auf Basis dieser Beispielfälle seien „nicht immer ganz sauber argumentiert“. Allegra und Dedole widersprächen so etwa der BDI-Hypothese, wenn deutsche Kohlekraftwerke geschlossen würden, müssten zwei Drittel des Stroms auch aus zweifelhaften Quellen aus Nachbarländern importiert werden – ohne diesen Widerspruch kloar zu belegen. Deutlich werde dafür jedoch, dass sowohl Kohle- wie auch Atomkraftwerke den Unternehmen viel Geld bringen, wohingegen der Rückbau der Letzteren und dier ewige Lagerung des strahlenden Mülls Milliarden-Kosten nach sich ziehen werden.
Am Schluss beklagt die FR: „Der Tonfall der Doku ist dann auch entsprechend resignativ – Lösungen schlägt sie gar nicht erst vor, stattdessen schließt sie mit einem sinnierenden Blick in die Zukunft und der Frage, ob künftige Generationen klüger sein werden als wir.“
Fell („Der Film ist ein Muss“) hat Recht, wenn er vorhersagt: Wer den Filöm gesehen habe, wundere sich nicht mehr, „warum immer noch auf sündhaft teure und höchst gefährliche Atomkraft, sowie schmutzige, klimaschädliche, aber auch Terror und Kriege befördernde fossile Energien gesetzt wird, obwohl doch alle angeblich den Klimaschutz und damit den Ausbau der Erneuerbaren Energien befürworten“.
„Die große Stromlüge“ ist in der arte-Mediathek abzurufen und wird am Mittwoch, 11.05.2016 um 10:45 Uhr wiederholt.
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