30 Jahre Super-GAU von Tschernobyl – III –
Das Netzwerk-Forum zur Biodiversitätsforschung Deutschland berichtet aus der Todeszone
100.000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen und Tausende leiden bis heute an den Folgen der Strahlung. Zurück blieb die Natur, die ebenfalls stark litt. Wildtierpopulationen wurden massiv dezimiert. Doch heute, 30 Jahre und viele Tiergenerationen nach der radioaktiven Verseuchung melden Forscher wieder normale Populationsgrößen. Die Todeszone ist für Naturforschende eine Referenzfläche für das Leben ohne menschlichen Einfluss. NeFo berichtet aus Tschernobyl.
Und das scheint zu florieren – trotz andauernder Strahlung. Studien zeigen warum: Die Tiere konnten sich offenbar an die Strahlung anpassen. Wölfe, Elche, Wisente, balzende Birkhühner: Im „Staatlichen, radioaktiv belasteten Schutzgebiet Polesie“ auf weißrussischer Seite des Unfallreaktors von Tschernobyl werden Naturerlebnisse möglich, wie sie woanders in Europa nur mit sehr viel Glück zu bekommen sind. Die Tiere haben keine Scheu vor dem Menschen, da sie keine Jagd kennen.
Referenzfläche für eine natürliche Landschaft in Europa
Diese fast völlige Abwesenheit des Menschen macht das Gebiet zu einem spannenden Forschungsobjekt. „Der Reaktorunfall hat quasi eine Referenzfläche für eine natürliche Landschaft in Europa hinterlassen“, meint der Geoökologe Michael Brombacher, Leiter des Referats Europa der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). In Tschernobyl würde sichtbar, wie schnell oder langsam sich in einer solchen Landschaft wieder Wald entwickelt. „Daraus können wir wichtige Erkenntnisse ziehen, die auch für Flächen in Deutschland, wie etwa ehemalige Truppenübungsplätze, relevant sind.“
Das Schutzgebiet ist mit zirka 2000 Quadratkilometern fast so groß wie Luxemburg und damit eines der größten Europas. Eingerichtet wurde es allerdings zum Schutz des Menschen, denn auch 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe ist das Gebiet rund um den Unfallort radioaktiv derart verseucht, dass die Strahlungsintensität 30 km rund um den Reaktor von leicht erhöhten deutschen Durchschnittswerten in den Randzonen bis hin zu tausendfacher Stärke direkt am Reaktor reicht.
Ein umfangreicher Bericht von 2009 fasste die Folgen für den Menschen, aber auch für die Natur zusammen. Die Autoren aus Russland und Weißrussland trugen als Beleg für die tödliche und nach wie vor unterschätzte Gefahr von Kernkraftwerken Tausende von Studien von Medizinern, Veterinärmedizinern, Biologen und Genetikern zusammen und beschrieben damit auch die wenig beachtete Entwicklung der Pflanzen und Tierwelt, die nach dem Reaktorunfall nicht fliehen konnten.
Vielfältige Deformationen
Vielfältige Deformationen bei Pflanzen und Tieren, Zunahme von Fehlgeburten und als Folge davon eine starke Dezimierung der Tierpopulationen in den Jahren nach dem Unfall wurden festgestellt. Die chronische Strahlung sei aber auch heute noch wirksam. So vermuteten französische Forscher, welche die Folgen der Radioaktivität auf Rauchschwalben untersuchen, dass deren Population sich nur durch stetigen Nachzug aus unbelasteten Gebieten erhalten könne.
Aktuelle Auswertungen regelmäßiger Zählungen von Wildtieren wie Wölfen, Elchen, Hirschen, Rehen und Wildschweinen in der Schutzzone ziehen dieses Bild jedoch eher in Zweifel. Zumindest scheint die Strahlung kein Begrenzungsfaktor für die Populationsentwicklung von Wildtieren zu sein, denn Vergleiche der Werte mit ähnlichen unbelasteten Schutzgebieten der Region ergaben keine signifikanten Unterschiede. Bis auf die Zahl der Wölfe, die im verseuchten Gebiet sogar siebenmal häufiger vorkommen sollen – vermutlich aufgrund fehlenden Jagddrucks durch den Menschen.
Nur 20 Prozent der Kinder gesund
Doch während die inzwischen zweite Folgegeneration der menschlichen Bevölkerung in der Ukraine und Weißrussland noch immer mit den Folgen der Strahlenverseuchung kämpft – nur 20 Prozent der Kinder sollen gesund sein, im Vergleich zu 90 Prozent vor dem Unglück – scheinen die Wildtiere sich mit der chronischen Strahlung arrangiert zu haben. Und tatsächlich zeigen neuere Untersuchungen an Vögeln, dass die Tiere offenbar physiologische Abwehrmechanismen entwickeln konnten – auch gegen hohe Strahlungsdosen. In Blutproben einiger der untersuchten Vogelarten fanden die Wissenschaftler erhöhte Werte des wichtigsten körpereigenen Antioxidans Glutathion, das durch Strahlung vermehrt entstehende freie Radikale abfängt. Darüber hinaus eine bessere körperliche Fitness sowie weniger DNA-Schäden im Vergleich zu schwach belasteten Gebieten. Ob dies auch für andere Tiergruppen zutrifft, untersuchen derzeit amerikanische Wissenschaftler vor Ort bei Wölfen.
Würde sich dieses Ergebnis für alle Säugetierarten bestätigen, müssten die Menschen vermutlich dennoch lange Zeit mit den negativen Folgen leben. Eine Studie an Mäusen aus dem Jahre 1988 zeigte, dass der Selektionsprozess 20 Generationen lang dauerte, um eine signifikant strahlungs-resistentere Population zu entwickeln.
[note Das Netzwerk-Forum zur Biodiversitätsforschung Deutschland (NeFo) ist ein Projekt zur inter- und transdisziplinären Vernetzung und Sichtbarmachung der Biodiversitätsforschung über Institutionsgrenzen hinweg. Es wird gefördert durch das BMBF und maßgeblich durchgeführt vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig – UFZ sowie dem Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung Berlin.]
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