Leonardo Boff: „Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen“
„Die gegenwärtige Situation ist in sozialer wie in ökologischer Hinsicht so schlimm, dass uns ein Weitermachen wie bisher – in der Art und Weise, die Erde zu bewohnen, zu produzieren, die Güter zu verteilen und zu konsumieren, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat – nicht die Bedingungen garantiert, um unsere Zivilisation, ja vielleicht nicht einmal die Spezies Mensch insgesamt, zu retten.“ Mit dieser eindeutigen – und schwerlich bezweifelbaren – Bestandsaufnahme beginnt der Befreiungstheologe Leonardo Boff sein jüngstes Buch „Überlebenswichtig – warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen“. Ein sehr schwierig zu besprechendes Werk, weil man nahezu jeden Satz unterstreichen möchte, einen die Rezension aber zu Auswahl und Zusammenfassung zwingt.
Bußschweigen
Der 1938 geborene Leonardo Boff, einer der profiliertesten Vertreter lateinamerikanischer Theologie und Spiritualität, wurde 1985 einer breiten Öffentlichkeit weit über Brasilien hinaus bekannt, als ihn der damalige Leiter der römischen Glaubenskongregation, Nachfolgeinstitution der berüchtigten Inquisition, Kardinal Joseph Ratzinger, mit einem einjährigen sogenannten Bußschweigen belegte, einem Rede-, Lehr- und Publikationsverbot. Der Grund dafür war seinerzeit nicht der übliche Vorwurf der Kurie an die Befreiungstheologen, sie tarnten den Marxismus durch kirchliche Lehren – Boff hatte die „wahre Kirche“ des Heiligen Geistes gegen die „falsche“ Kircheninstitution mit ihren Machtansprüchen über die Gläubigen gestellt und dabei ausdrücklich auf die Reformation Bezug genommen. Ratzingers Vorwurf lautete unter anderen, Boff zufolge habe Christus keine bestimmte Kirchengestalt befohlen, sodass aus dem Evangelium heraus auch andere als das katholische Kirchenmodell denkbar wären, und dass Boff den Machtmissbrauch der Kirche unnötig polemisch und respektlos beschrieben und der Kircheneinheit damit geschadet habe. In einem Interview mit Philipp Gessler in der taz beschrieb Boff vor kurzem den unwürdigen Akt: „…ein großer Saal in einem großen Gebäude. Ein langer Korridor von, glaube ich, über hundert Metern, voller Teppiche und großer Bilder aus dem Mittelalter, ganz fein und reich – und ganz am Schluss kommt dann eine Tür, ganz klein. Man muss sich bücken, um hindurch zu kommen. Dann ein sehr schwarzer Saal, schwarz, tatsächlich. Mit vielen Büchern. Und Ratzinger sitzt oben, einen halben Meter höher. Und ich unten. Er schaut nach unten. Nur räumlich ist das schon ein Zeichen, dass er überragend ist. Darunter der Sekretär, der alles notiert. Und es war derselbe Stuhl wie bei Galilei…“
Die Erde als Partner des Menschen
Jetzt also die Nachhaltigkeit. Denn, so der Klappentext, „die ökologische Frage ist die alles entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts. Die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Rückgang der Artenvielfalt, grenzenlose Ausbeutung von Ressourcen, immer weiter steigender Energieverbrauch, lebensfeindliche Wirtschafts- und Finanzsysteme führen die Erde an den Rand des Abgrunds“. Leonardo Boff zeigt in seinem Buch zunächst, dass sich die bisherigen Modelle – trotz des Etiketts „ökologisch“ oder „nachhaltig“ – innerhalb des alten Wachstumsparadigmas bewegen und deshalb unzulänglich sind. Er entwickelt daher ein neues zivilisatorisches Modell, ein neues Verhältnis der Menschen zur außermenschlichen Kreatur und zur Erde; dafür versteht er die Erde und die Natur als lebende Persönlichkeiten, als Partner des Menschen. Er begründet überzeugend, wie nur diese revolutionäre Sicht einer echten Nachhaltigkeit den drängenden Herausforderungen gerecht wird. Ein Weckruf, die derzeitige bedrohliche Situation als Chance für ein radikales Umdenken zu begreifen.
„Die große Herausforderung“, die aus diesem Weckruf für Boff resultiert, fasst der Brasilianer so zusammen: Wir müssten „eine nachhaltige Lebensweise schaffen“. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ dürfe dabei nicht verkürzt werden, dürfe nicht – wie heute zumeist der Fall – als eine Qualität von Wachstum und Entwicklung verstanden werden: „Nachhaltigkeit muss vielmehr alle Wirklichkeitsbereiche umfassen: von den Einzelnen über die Gemeinden, die Kulturen, die Politik bis zur Industrie. Nachhaltigkeit ist eine Seins- und Lebensweise, die uns abverlangt, unser Handeln als Menschen in Einklang zu bringen mit den begrenzten Möglichkeiten eines jeden Lebensraums und mit den Bedürfnissen der gegenwärtig lebenden Menschen sowie der künftigen Generationen.“
Eingehende Diskussion der Nachhaltigkeitsbegriffe
Boff beschäftigt sich ausführlich mit dem Begriff Nachhaltigkeit, polyglott zitiert er seine Bedeutung in mehreren Sprachen, historisch geht er sogar noch bis 1560, hinter den in Deutschland stets als Ahnvater des Begriffs zitierten Hans Karl von Carlowitz (1713: „Silvacultura Oeconomica“) zurück. Es ist ein langer Weg, bis 1972 das Wort zum ersten Mal in seiner modernen erweiterten Bedeutung auftaucht – in den berühmt gewordenen „Grenzen des Wachstums“. In der ersten Fassung wird „sustainable“ noch mit „aufrechterhaltbar“ übersetzt (S. 142). Allerdings heißt die Erkenntnis schon damals: „Ein endlicher Planet erträgt kein auf Grenzenlosigkeit angelegtes Projekt.“
Überall zitiert wird – auch von Boff – eine spätere Definition aus dem Abschlussbericht der Brundtland-Kommission von 1987 – demnach ist nachhaltige Entwicklung jene, „die den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen“. Konsequenz aus dem Brundtland-Bericht war 1992 die UNCED (United Nations Conference on Environment and Development) in Rio de Janeiro – deren Nachfolgekonferenz in Johannesburg 2002 dann in Frustration endete – noch boykottierten die Mächtigen die Diskussion um Erneuerbare Energien als Ersatz für Fossile, vor allem das Erdöl. Sehr gemischt fiel schließlich das Resultat der „Rio 20+“-Konferenz 2012 aus – vor allem im Licht – besser überschattet von – der Finanzkrise, als sichtbarer „Bankrotterklärung des kurzfristigen Denkens“ (Klaus Töpfer). Allerdings griff Frankreichs Präsident Jacques Chirac in seiner Rede zum ersten Mal die Kultur als „vierte Säule der Nachhaltigkeit“ auf – eine Anregung des Australiers John Hawkes.
Aber seit der UNCED 1992 waren laut UN, so zitiert Boff die traurig-erschreckende Bilanz der vergangenen 20 Jahre,
- 3 Millionen m² Wald abgeholzt und
- 40 % mehr Treibhausgase emittiert worden, hatte
- die Artenvielfalt um 12 % abgenommen und waren
- etwa die Hälfte der weltweiten Fischbestände vernichtet worden.