Illusion des Anthropozentrismus
Im Verlauf setzt sich Boff mit den weiteren Negativa unserer derzeitigen sozio-ökologischen Ordnung auseinander, diese sei deshalb nicht nachhaltig, weil die Erde lediglich als „Sache und Ressourcenspeicher“ angesehen werde; daraus sei die „Illusion des Anthropozentrismus“ (der Mensch im Zentrum der Schöpfung als absoluter Herrscher über die Natur) entstanden. Der Mythos des grenzenlosen Fortschritts nähre Illusionen von rein technischen Lösungen der ökologischen Krise. Eine zergliedernde, mechanistische und patriarchalische Wirklichkeitsauffassung habe den Überblick übers Ganze verloren. Die übertriebene Wertschätzung des Individualismus verschmelze mit dem Geist des Wettbewerbs als grundlegendem Motor für die kapitalistische Akkumulation – die Folge: brutaler Sozialdarwinismus. Das gelte solange, wie Achtlosigkeit statt Achtsamkeit vorherrsche und das Kapital Vorrang vor den Menschen genieße. „Und so steuern wir fröhlich und einander fremd auf einen Abgrund zu, den unser Mangel an empfindsamer Vernunft, an Weisheit und transzendenter Sinngebung für des Leben geschaffen hat.“
Was zu tun ist
Nach der schonungslosen Diagnose widmet Boff die zweiten 80 Seiten seines Buchs der Therapie. Für seinen umfassenden Begriff der Nachhaltigkeit legt er zunächst seine kosmologischen und anthropologischen Grundannahmen dar. Wir müssten ein neues „Paradigma der Zivilisation entwickeln“ – eine „ungeheuer große Aufgabe, die aber keinen Aufschub“ dulde. Unter „Paradigma“ versteht Boff „die strukturierte Gesamtheit von Sichtweisen der Wirklichkeit, Werten, Traditionen, heiligen Bräuchen, Ideen, Träumen, Produktionsweisen und Konsumverhaltensmustern. Wissensfarmen, Wissenschaften, kulturellen und ästhetischen Ausdrucksfarmen und ethisch-spirituellen Wegen. Diese strukturierte Gesamtheit bringt eine in sich relativ stimmige, systemische Sichtweise hervor, die auch Weltanschauung bzw. Kosmovision genannt wird. Damit ist eine allgemeine Sichtweise vom Universum, von der Erde, vom Leben und vom Menschen gemeint, die als Orientierung für die Einzelnen und die Gesellschaft dient und das menschliche Bedürfnis nach einer umfassenden Sinngebung für alles erfüllt.“
Boff sieht heute zwei Paradigmen einander diametral gegenüberstehen: Einmal „die sogenannte moderne Weltanschauung, die wir als Kosmologie der Herrschaft bezeichnen, denn ihren Fokus bilden Eroberung und Herrschaft über die Welt“ – die „andere Weltanschauung bzw. Kosmovision nennen wir Kosmologie der Veränderung, und sie ist Ausdrucksweise des Ökozäns, das die ökologische Frage ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rücken wird“.
Quantenvakuum und Hintergrundenergie
Boff zitiert, seine Kosmovision entfaltend, Quantenvakuum und „geheimnisvolle Hintergrundenergie“ sowie deren vier Ausdrucksweisen Gravitation, elektromagnetische Wechselwirkung, starke und schwache Kernkraft (welche die Wissenschaft bis heute nicht verstehen könne) – schwere Kost auch für den interessierten und vorgebildeten Laien. Das Universum organisiere sich „in Gestalt immer höherer Komplexität, Interiorität und wechselseitiger Abhängigkeit“. Alle Seinsformen des Universums bestehen aus denselben physikalisch-chemischen Elementen – kurz: „aus Sternenstaub“. In dessen schöpferisches Chaos greife die barbarische Produktionsweise des industriellen Zeitalters geradezu mörderisch ein.
Folgt: Mutter Erde