Mutter Erde
Die Erde versteht Boff in diesem Zusammenhang als Gaia – „Mutter“ Erde. Boff vertrat 2009 nach dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen in einer UN-Konferenz vor 190 Staatenvertretern den Vorschlag des bolivianischen Präsidenten Evo Morales argumentativ, den 22. April von „Tag der Erde“ in „Tag der Mutter Erde“ umzubenennen. Das hält Boff für sehr bedeutend, rückt es doch den Menschen aus dem Zentrum und reiht ihn ein in den Artenreichtum, den Gaia hervorgebracht hat. Denn der Mensch braucht ein erweitertes Bild seiner selbst: Nicht nur Körper und Geist machen ihn aus, sondern auch Gefühl, Seele und Psyche – aus ihr erwachse das Prinzip Hoffnung (Ernst Bloch).
Nachhaltigkeit nicht verkürzen
Kein Wunder, ist für Boff „ein Neuanfang zwingend geboten, der neue Begriffe, neue Visionen und neue Träume beinhalten muss, wobei die unverzichtbaren wissenschaftlichen und technischen Instrumente mit einbezogen werden müssen. Es geht um nicht weniger als darum, den Gesellschaftsvertrag unter uns Menschen und den Pakt mit der Natur und der Mutter Erde auf eine neue Grundlage zu stellen“. Dafür fordert er einen „Wandel der Gesinnung, das heißt eine neue mentale Software bzw. ein anderes Design unserer Art zu denken und die Wirklichkeit zu deuten“ – und eine Veränderung des Herzens. Denn die emotionale Intelligenz, die Intelligenz des Herzens, vermittle uns das Gefühl, Teil eines umfassenderen Ganzen zu sein. „Wir sind dringend dazu aufgefordert, ein Gefühl der globalen wechselseitigen Abhängigkeit zu entwickeln.“ Daher müssten wir ein scharfes Bewusstsein für die guten oder schlechten Folgen unseres Handelns , unserer Politik und unseres Eingreifens in die Natur entwickeln. Boff fasst die große Herausforderung so zusammen: „Eine nachhaltige Lebensweise schaffen. Der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ darf nicht verkürzt, darf nicht den Substantiven Wachstum und Entwicklung lediglich als Adjektiv beigefügt werden, wie es heute überwiegend der Fall ist. Nachhaltigkeit muss vielmehr alle Wirklichkeitsbereiche umfassen: von den Einzelnen über die Gemeinden, die Kulturen, die Politik bis zur Industrie. Nachhaltigkeit ist eine Seins- und Lebensweise, die uns abverlangt, unser Handeln als Menschen in Einklang zu bringen mit den begrenzten Möglichkeiten eines jeden Lebensraums und mit den Bedürfnissen der gegenwärtig lebenden Menschen sowie der künftigen Generationen.
Boffs Nachhaltigkeitsdefinition
Dabei definiert Boff Nachhaltigkeit integral als „alles Handeln, das darauf abzielt, die energetischen, informations-gebundenen und physikalisch-chemischen Bedingungen aufrechtzuerhalten, die allen Seinsformen, insbesondere der lebendigen Erde, der Gemeinschaft des Lebens und dem menschlichen Leben dauerhaften Bestand verleihen, deren Fortbestand garantieren wollen und die Bedürfnisse der gegenwärtigen sowie der künftigen Generationen mitsamt der Lebensgemeinschaft, in die sie eingebunden sind, befriedigen, und zwar solcherart, dass das natürliche Kapital erhalten bleibt und in seiner Fähigkeit zur Regeneration, Reproduktion und Koevolution gestärkt wird.“ Auf allen Ebenen – auch global – müsse Nachhaltigkeit durchgesetzt werden, denn Nachhaltigkeit könne nicht nur für einen Teil des Planeten garantiert werden.