Vom nationalen Alleingang zum europäischen Projekt
von Rebecca Betram
Die deutsche Energiewende ist in ihrem Ursprung ein rein nationales Projekt und wird nur erfolgreich sein, wenn mit den europäischen Nachbarn kooperiert wird. Als die Bundesregierung die Umstrukturierung des deutschen Energiesystems beschloss, tat sie das ohne Rücksicht auf die möglichen Auswirkungen der Energiewende auf unsere europäischen Nachbarn.
Deshalb wird in Europa das Experiment Energiewende nicht immer so positiv angesehen, wie man sich das hierzulande wünscht. Nun steht die Europäische Union davor, ihre energiepolitischen Ziele für 2030 zu beschließen. Deutschland hat dabei ein klares Interesse, das bisher verdrängt wurde: Wenn die Energiewende in Deutschland gelingen soll, bedarf es dafür enger Kooperation und Abstimmung mit den europäischen Nachbarn.
Europa gibt der deutschen Energiewende Flexibilität
Mit einem Anteil von 32 Prozent Erneuerbarer Energie im Stromsektor tritt die deutsche Energiewende in ihre entscheidende zweite Phase. In einem Energiesystem, in dem inzwischen volatile und nicht immer verfügbare erneuerbare Energien den größten Produktionsanteil ausmachen, geht es vermehrt darum, Angebot und Nachfrage effizienter in Einklang zu bringen.
In den letzten Jahren hat Deutschland sehr von der vernetzten europäischen Strominfrastruktur profitiert. So wurde nicht nur oft überschüssiger norddeutscher Windstrom in die Stromnetze unserer Nachbarn eingespeist, sondern deren Netze auch dafür genutzt, deutschen Strom aus dem Norden in die Industriestandorte im Süden zu transportieren. Bei Flaute konnte Deutschland stets auf konventionellen Strom aus dem Ausland zugreifen. Das führte aber auch zu unberechenbaren Auswirkungen der deutschen Energiewende auf die nationalen Stromnetze anderer EU-Partner. Insbesondere Polen klagt immer wieder, dies zwinge seine Energieversorger, ihre Nettoübertragungskapazitäten entsprechend anzupassen.
Für Deutschland war und ist dies eine bequeme Lösung nicht nur, weil Deutschland derzeit Überkapazitäten von ca. 8 Prozent des eigenen Stromverbrauchs pro Jahr ins europäische Ausland exportiert, sondern auch, weil man sich hierzulande nicht ernsthaft um eine teurere flexible Strominfrastruktur mit Speicherkapazitäten und neuen Stromtrassen kümmern musste.
Jedoch hat das Unbehagen unserer europäischen Nachbarn gegenüber den Parallel- und Ringflüssen inzwischen dazu geführt, dass diese an ihren Grenzen vermehrt sogenannte Phasenschieber in Betrieb nehmen, um ihre nationalen Stromnetze vor Deutschlands Strom zu „schützen.“ Damit entfällt für Deutschlands Energiewende ein wichtiges Flexibilitätselement, das die bisherigen Kosten der Energiewende niedriger hielt als sie es ohne den Zugang zu den die Stromtrassen und –märkten der Nachbarn wäre.
Die deutsche Energiewende gelingt nur europäisch
Nach der Energievision 2030 der Europäischen Kommission sollen bis zu diesem Datum europaweit 27 Prozent der Energie aus Erneuerbaren Energien kommen und Energieeffizienzeinsparungen 30 Prozent ausmachen. Auch sollen Kapazitätsmechanismen den Neubau von Kraftwerken begünstigen.
Diese kleinmütigen Vorschläge zeigen vor allem eines: Es gibt in der europäischen Energiepolitik momentan kein gemeinsames ehrgeiziges Ziel, auf das sich die Mitgliedsstaaten verständigen können. Stattdessen verfolgen alle weiterhin rein nationale Energieinteressen – von Kohle in Polen zu Atom in Frankreich. Da ist es kein Wunder, wenn die Kommission keine kohärente und ambitionierte Energiepolitik vorschlagen kann.
Eine Änderung wäre nur möglich, wenn Energiewende-Vorreiter wie Deutschland sich endlich anschicken, ihre europäischen Nachbarn von den positiven wirtschafts- und sicherheitspolitischen Vorteilen einer Umstrukturierung der Energiesysteme zu überzeugen.
Und zwar im eigenen Interesse. Denn Deutschland braucht Europa, um seine eigene Energiewende voranzutreiben. Die Europäische Kommission könnte Ausbau und Vermarktung Erneuerbarer Energien in Deutschland erheblich behindern. So stellt sie beispielsweise mit ihrer 2030-Vision ein Ende des bislang gewährten privilegierten Zugangs im Energiesystem für Erneuerbare Energien in Aussicht.
Auch für die Erreichung der Klimaziele, die Deutschland und die Europäische Union als Teil des Pariser Klimaabkommens Ende 2015 beschlossen haben, bedarf es einer europäischen Energiewende. Die deutsche Energiewende allein – sofern sie denn endlich in einer signifikanten Reduzierung von Treibhausgasemissionen resultiert – wird den nötigen Umschwung im Klimawandel nicht bewirken.
Europa in der Krise braucht eine Energie-Vision
Europa befindet sich zurzeit in einer schweren Identitätskrise. Nach dem Brexit und den anti-europäischen Bewegungen in vielen europäischen Mitgliedsstaaten braucht Europa eine einigende Wachstums- und Innovationsvision, die wichtige neue Investitionen in ein übergreifendes europäisches Projekt auslösen würde.
Eine echte europäische Energiewende könnte diese Vision für Europa sein. Sie würde nicht nur eine stärkere Innovations- und Digitalisierungskultur in Gang setzen, sondern Europa auch weiterhin als globalen Vorreiter in der Gestaltung nachhaltiger Energiepolitik hervorheben und die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland und Europa in der Welt erhöhen.
Außerdem würde eine europäische Energiewende der Energiesicherheit Deutschlands und der gesamten EU zugutekommen. Der Mix von heimisch produziertem Strom und steigender Energieeffizienz macht ein Land unabhängiger von Importen und internationalen Preisentwicklungen. Nirgends kann man derzeit die Folgen von Energieunsicherheit besser beobachten als in Europa: die Krise in der Ukraine hat die Europäer schmerzlich daran erinnert, woher die EU heute rund ein Drittel ihres Gasbedarfs deckt.
Wenn die EU wirklich die Energiewende als Schritt zu einer europäischen Energieunion anpackt, um eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Russland und eine integrierte Energieinfrastruktur innerhalb Europas zu erreichen, sollte sie die Krise als Chance und Vision für eine nachhaltige Energiepolitik erkennen.
Wie weiter?
Wenn Deutschland also in den kommenden zwei Jahren den Verhandlungsprozess der energiepolitischen Diskussion in Europa sinnvoll voranbringen will, darf Berlin sich nicht in kleinteiligen Streitereien über die Vorrangsregelung für Erneuerbare oder Kapazitätsmechanismen erschöpfen. Vielmehr geht es darum, im engen Dialog mit den EU-Mitgliedsstaaten – auch über deren Bedenken – eine neue Erzählung über eine gemeinsame europäische Energiewende zu entwickeln, in der die Vorteile einer wirtschaftlichen Modernisierung im internationalen Wettbewerb im Vordergrund stehen. Nur so kann die Energiewende in Deutschland und in Europa gelingen.
->Quelle: Rebecca Bertram für Heinrich Böll-Stiftung