Lehren für die Zukunft
Weitere Fortschritte im Verständnis der historischen Entwicklungen mit ihrer ganzen Komplexität und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen erfordern neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften. Zu untersuchen ist ja eine tatsächlich interdisziplinär zu begreifende Koevolution von menschlichen, biologischen und geohistorischen Prozessen. Eine derartige Zusammenarbeit ist auf historiographische Perspektiven angewiesen, die sich im Kontext aktueller Ansätze der Welt- und Umweltgeschichte und der Geschichte des Anthropozäns entwickelt haben. Demzufolge muss sie sich einerseits mit globalen Konstellationen und langfristigen Prozessen und anderseits mit Ereignissen und Prozessen beschäftigen, die nur über mikrohistorische Sichtweisen zugänglich sind. Die Kombination aus Analysen auf planetarischer Makroebene auf der Grundlage von großen Datenvolumen mit detaillierten historischen Untersuchungen auf Mikroebene kann zu einem neuen, empirisch basierten Ansatz für gesellschaftliche Transformationen beitragen.
Wichtige Fragen, die im Rahmen künftiger Untersuchungen zu stellen sind, lauten:
- Wie können wir langfristige und weitreichende Transformationsprozesse im Bereich der Energieressourcen identifizieren?
- Wie können historische Methoden das Erkennen kausaler Zusammenhänge zwischen der technischen Nutzung verschiedener Energieträger und sozialen Prozessen unterstützen?
- Welche Art der Analyse historischer Epochen liefert nützliche Erkenntnisse zur aktuellen Übergangssituation bei den Energiesystemen?
- Wie kann man die Informationsdichte und die Nähe zu den mikrohistorischen Ereignissen mit grundsätzlichen Aussagen über die Makroprozesse historischer Transformationen kombinieren?
- Welche historische Fallstudien sind besonders vielversprechend für Überlegungen zur aktuellen Energiewende?
- Wie lassen sich theoretische Modelle aus unterschiedlichen Disziplinen methodisch in die historische Reflexion über Ressourcen- und Energietransformationsprozesse integrieren?
- Welche neuen Arten von Quellen und Daten sollten in solche Forschungsbemühungen einfließen?
Um eine Analyse all dieser Entwicklungen zu ermöglichen, müssen viele verschiedene Theoriemodelle aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengeführt werden. Zur Identifizierung genereller Merkmale in verschiedenen historischen Epochen sind große Datenmengen erforderlich. Den Naturwissenschaften ist der Umgang mit großen Datenvolumen zwar vertraut. Ihre Eingliederung in die historische Forschung bedeutet jedoch das Beschreiten neuer Wege. Und es müssen neue Methoden entwickelt werden, um neue Erkenntnisse aus den Datensätzen zu extrahieren.
Die Energie zählt zu den wesentlichsten und allgemeinsten Konzepte der Naturwissenschaften. Alle Prozesse in der Natur haben mit der Umwandlung verschiedener Formen von Energie zu tun. In ähnlicher Weise hängt auch fast jede Ausdrucksform des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens mit dem Konzept der Energie zusammen. In der Moderne sind Wohlstand, Freiheit und Fortschritt fast automatisch mit einem hohen individuellen Energieverbrauch verbunden. Und diese Fülle ist nicht nur für moderne Wirtschaftssysteme signifikant. Seit der prähistorischen Bändigung des Feuers für Kochen und Kult, für Feuerstelle und Altar haben die Umwandlung von Energie zahllose Kulturen angetrieben. Brandrodungen, handwerkliche und industrielle Verfahren, Transport, Kommunikation, Kriegsführung und sogar religiöse Praktiken basieren auf Formen der Energieumwandlung. Aber die historiographische Analyse dieser weitreichenden Rolle der Energie ist noch vergleichsweise wenig ausgeführt.
Wenn man über die materielle Kultur von heute nachdenkt, beschäftigt man sich unweigerlich auch mit dem maßgeblichen Einfluss der Menschheit auf die Bedingungen, die unser Lebensstil dem globalen Ökosystem aufzwingt. Die Erde ermöglicht als System von Stoffkreisläufen die Entwicklung von menschlichen Hochkulturen, ist aber zugleich auch anfällig für Übernutzung und kurzsichtige Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Die Menschheit muss nicht nur Lösungen für viele technische Aspekte unserer Energie- und Industrieproduktion sowie unserer Verkehrs- und Heizungsprobleme finden. Es bleibt auch die Frage, ob wir unsere Wertesysteme schnell genug ändern können. Die Mitte dieses Jahrhunderts liegt ungefähr eine Generation entfernt. Es bleibt also nur noch wenig Zeit für eine gründliche Bewusstseinsänderung. Auch in der Vergangenheit waren geschichtliche Veränderungen mit rasanten Wandlungen in unserer Denk- und Handlungsweise verbunden. Heute haben moderne Informations- und Kommunikationstechnologien unsere Möglichkeiten der gemeinsamen Entwicklung und des Austausches von neuen Ideen und Erkenntnissen drastisch verbessert.
Wie unter Berücksichtigung der Grenzen des Erdsystems in persönlicher Freiheit leben?
Wir werden Antworten auf die Frage finden müssen, wie eine Gesellschaft unter Berücksichtigung der Grenzen des Erdsystems zu einem Leben in persönlicher Freiheit befähigt werden kann, während sie gleichzeitig auf das unverkennbare Bestreben schwächer entwickelter Länder reagiert, zumindest Anteile am ressourcenintensiven, luxuriösen Leben der Industriegesellschaften zu genießen. Dieser Wunsch nach Teilhabe kann wohl kaum verwehrt werden, zwingt aber die industrialisierte Welt umso mehr, sich für eine schnelle Energiewende einzusetzen. Dieser Übergang erfordert neues Wissen, das nur über eine Grundlagenforschung gewonnen werden kann, die frei von wirtschaftlichen und politischen Zwängen ist und die Bereitschaft zeigt, die aktuelle Situation neu zu überdenken. Und zu dieser grundlagenorientierten Forschung will die Forschungsinitiative der Max-Planck-Gesellschaft beitragen.
->Quelle: mpg.de/sozio-technisch-energiewende