Innerhalb weniger Jahrzehnte neue Plattform nötig
Das gegenwärtige Energiesystem beruht auf einer technischen Infrastruktur, die – im Sinne einer Plattform – bestimmte Funktionen wie die Konversion, Speicherung und Übertragung von Energie ermöglicht, während sie andere Funktionen wie die Herstellung eines geschlossenen Kohlenstoffkreislaufs nicht garantieren kann. Wie der Biologe Manfred Laubichler gezeigt hat, lassen sich die Energierevolutionen des Erdsystems als „Plattformwechsel“ verstehen: Innerhalb weniger Jahrzehnte brauchen wir eine völlig neue Plattform, die Klimaneutralität ermöglicht und zugleich alle anderen Anforderungen an ein Energiesystem erfüllt. Sie wird voraussichtlich zugleich die Grundlage für eine Vielfalt von Innovationen bieten, und damit auch fundamental neue wirtschaftliche und soziale Möglichkeiten eröffnen.
Auf welcher Skala lassen sich die besprochenen Probleme wirksam angehen? Die Antwort wird weitgehend durch die Struktur des Energiesystems selbst bestimmt. Auch das Energiesystem ist letztlich ein globales Netzwerk. Dennoch lassen sich Teilnetze ausmachen, für die sich Regelungsmöglichkeiten durch Industrie- und Infrastrukturpolitik, durch Gesetzgebung sowie durch öffentlichen Diskurs eröffnen. Hier sind Nationalstaaten ebenso wie supranationale Gebilde wie die Europäische Union gefragt.
Nicht Energie, sondern Energiesystem-Komponenten exportieren
Die naturräumlichen Bedingungen in Amerika unterscheiden sich erheblich von denen Europas und damit auch die Interessenlagen hinsichtlich eines zukünftigen Energiesystems. In den USA gibt es keinen Mangel an Sonnenenergie wie in Deutschland, und man wird dort auch noch weitaus länger als bei uns von fossilen Brennstoffen leben können. In Deutschland und Europa dagegen besteht das größte Interesse an einem Energiesystemwechsel. Die Alternative wäre eine steigende Abhängigkeit von Energieimporten, insbesondere aus Russland und China, und damit der Verzicht auf entscheidende Gestaltungsmöglichkeiten. Denn ist eine solche Abhängigkeit erst etabliert, sinken auch hier die Chancen für einen Systemwechsel aus eigener Kraft. Daher ist nicht nur aus klimapolitischer Sicht, sondern auch aus geopolitischen Gründen jetzt der richtige Zeitpunkt, um einen massiven Systemumbau in Angriff zu nehmen. Das Fenster für diese Chance könnte bald zugehen.
Die Schaffung einer neuen Energieplattform würde die Möglichkeit eröffnen, in Bezug auf ökonomische Abhängigkeiten den Spieß umzudrehen, und nicht die Energie, sondern die Komponenten eines neuen Energiesystems zu einem internationalen Exportschlager zu machen. Wir sollten auf eine offene Zukunft setzen, das dazu notwendige neue Wissen erarbeiten und innovative Technologien als Teil einer neuen klimaneutralen Plattform entwickeln. Eine solche wird allerdings nicht durch eine zögerliche Energiewende entstehen, sondern kann nur das Ergebnis einer nationalen und europäischen Anstrengung sein. Zugleich könnte ein neues Energiesystem in Deutschland und in Europa zu einem Musterfall für den weltweit notwendigen Umbau werden. Insofern wäre neue Energie für Deutschland auch ein Beitrag zur Lösung der globalen Nachhaltigkeitsprobleme.
Dieser Text erschien zuerst im Tagesspiegel Berlin vom 04.03.2018 in der Beilage „130 Jahre Urania“ (Seite B 3).
Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Robert Schlögl Gründungsdirektor am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr und Direktor am Fritz-Haber-Institut in Berlin.