Die Meldung, dass Russland auch künftig die Ukraine als Transitland nutzt, relativiert sich etwas, wenn man die normative Kraft des Faktischen stärker gewichtet. Die Kapazitäten von Nord Stream 1 und 2 reichen keineswegs aus, einen bis zuletzt drohenden Totalausfall der Ukraine zu kompensieren. Eine Rolle spielen auch die reichlichen Gasspeichervorkommen in der Ukraine. Deren Weiternutzung wäre im Extremfall gefährdet, sie sind aber für das Management des Spitzenbedarfs bzw. -transits im Winter in Europa bis dato unverzichtbar.
Projektgegner (u.a. das Gaslieferland Norwegen und die neben der Ukraine ebenfalls wichtigen osteuropäischen Transitländer Polen, die Slowakei sowie die baltischen Staaten) behaupten, dass Nord Stream 2 die Versorgungssicherheit mindert. Tatsächlich ist wohl das Gegenteil der Fall: Bereits seit mehr als 40 Jahren liefert Russland unterbrechungsfrei Gas nach Westeuropa. Dies also bereits zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, die zeitweise ähnlich unterkühlt waren wie jetzt angesichts des EU/USA-Russland-Konflikts rund um die Krim. Da der neue Gastransport nur noch wenige Länder tangiert, ist er noch sicherer als in der jüngsten Vergangenheit.
Nord Stream 2 führt nicht zu der mancherorts befürchteten Gasmarktteilung zwischen Ost- und Westeuropa. Von Greifswald aus können mit Fertigstellung der EUGAL 2020 bis zu 50 Mrd. Kubikmeter Gas über Tschechien Richtung Osten verteilt werden, was dort die Sicherheit steigert. Hinzu kommt, dass sich in Europa infolge künftig absehbar sinkender heimischer Gasproduktion (u.a. in den Niederlanden) eine Versorgungslücke auftut. Die großen russischen Gasvorkommen und die Pipes sind bestens geeignet, einen signifikanten Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten.
Das mancherorts bemühte Wettbewerbsargument des Entstehens von zu viel russischer Marktmacht überzeugt angesichts der aus Wettbewerbssicht mittlerweile notwendigen Neudefinition des relevanten Marktes nicht mehr. Alle namhaften Energieinstitute (z.B. die IEA) prognostizieren global steigende Gasmengen und -anteile in den kommenden Dekaden, und dies aus sehr unterschiedlichen Regionen. Weltweit gibt es bereits 19 LNG-Exportländer. So differente Adressen wie Katar, Indonesien, das immer wichtiger werdende Australien und neuerdings die USA balancieren die Weltgasmärkte aus und steigern die Versorgungssicherheit.
Nicht nur in Deutschland wird Erdgas aufgrund der zuletzt enttäuschenden Klimabilanz als Brückenenergie immer beliebter. Selbst China setzt verstärkt auf Gas und tätigt enorme Investitionen für seine Energietransformation weg von der Kohle. 2017 stiegen Chinas LNG-Importe um 46%. Europa sollte froh sein, dank der Ostseepipelines etwas weniger dem scharfen Wettbewerb seitens der energiehungrigen asiatischen Wachstumsländer ausgesetzt zu sein.
Gelegentlich wird argumentiert, die USA verfolgten mit der Ablehnung von Nord Stream 2 nicht die Stabilisierung der Ukraine, sondern unterstützten die wirtschaftlichen Interessen der US-Gaswirtschaft. Der Verzicht auf die Pipeline, so die Argumentationslinie, führe zu höheren Gaspreisen in Europa. Dies würde die US-Gaswirtschaft gleich doppelt begünstigen: Erstens durch die höheren LNG-Exporteinnahmen in Europa, zweitens dadurch, dass Mengen vom reichlich versorgten US-Gasmarkt fern blieben und damit höhere heimische Preise erzielbar wären. Richtig daran ist sicherlich, dass die USA ihre Energiepolitik neu justieren, sich als Energiesupermacht und künftig auch Netto-Energieexporteur sehen. Der neue Weltgasmarkt hat aber eigene Gesetze. Impulsgeber für künftige US-LNG-Lieferungen nach Europa werden deshalb nicht Russlandsanktionen bzw. der Verzicht auf Nord Stream 2 sein, sondern die für jeden ehrbaren Kaufmann geltenden Gesetze der Ökonomie. Die in den letzten Jahren massiv aufgebaute LNG-US-Exportinfrastruktur wird künftig immer dann für Europalieferungen genutzt werden, wenn die Preis-Spreads zwischen den europäischen Handelsmärkten (z.B. TTF, NBP) und dem amerikanischen Henry Hub eine akzeptable Rendite (freilich inklusive der Kosten für Verflüssigung, Ferntransport und Regasifizierung) ermöglichen.
Dank der sich abzeichnenden Weiternutzung ukrainischer Transitrouten für russisches Gas, die immer eine deutsche Bedingung für Nord Stream 2 war, landen künftig noch mehr Liefermengen in Europa als 2017, das das neue Spitzenjahr für russische Gasexporte nach Europa war. Große bzw. steigende Mengen sorgen für Margendruck im europäischen Gashandel. Davon wiederum sollten die typischen Gasabnehmer – also die Verbraucher, Industriekunden und Gaskraftwerksbetreiber – begünstigt werden. Für all jene, die Gas als Übergangsenergie nicht ganz grundsätzlich ablehnen, sollte dies eine gute Nachricht sein. Es bleibt zu wünschen, dass Russland sich künftig wieder in die Staatengemeinschaft einfindet. Die gestiegene Flexibilität im Gaskonflikt setzt ein erstes Zeichen der Hoffnung.
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