Zweierlei Ansichten über eine Brüsseler Entscheidung

Europäische Kommission schließt langjähriges Beihilfeverfahren wegen Netzentgeltbefreiungen ab

Die vollständige Befreiung von Netzentgelten, die Deutschland 2012 und 2013 nach dem früheren § 19 Abs. 2 S. 2 Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) großen Stromverbrauchern gewährte, verstieß aus Sicht der EU-Kommission gegen EU-Beihilferegeln, wie sie in ihrer am 28.05.2018 erlassenen „gemischten Entscheidung festlegte. Jetzt muss Deutschland die illegalen Beihilfen zurückfordern. Das Bundeswirtschaftsministerium stellt das in einer Medienmitteilung allerdings so dar: „Die damaligen Reduzierungen wurden grundsätzlich beihilferechtlich genehmigt, das aktuelle System der Stromnetzentgeltverordnung bleibt unangetastet und es gibt nur sehr begrenzte Rückforderungen“.

Mastenwald in Westfalen – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Weiter heißt es in der BMWi-Medienmitteilung: „Mit der heutigen Entscheidung wird ein Beihilfeverfahren abgeschlossen, das vor etwa sieben Jahren begonnen wurde. Das aktuelle, seit 2014 geltende System der teilweisen Befreiung von Netzentgelten im Sinne des heutigen § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV bleibt unangetastet und ist damit beihilferechtlich abgesichert. Das ist eine wichtige und gute Nachricht für Unternehmen, da hiermit Rechtssicherheit hergestellt wird.“

Auch die früheren Netzentgeltreduzierungen seien von Brüssel genehmigt worden. Nur „für einige Altfälle kommt es hingegen zu teilweisen Rückforderungen, da die vollständige Netzentgeltbefreiung, die im Jahr 2011 eingeführt wurde, von der Europäischen Kommission nicht genehmigt worden ist“.

EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager begründete dagegen die Brüsseler Entscheidung u.a. so: „Alle Stromverbraucher müssen die Netzbetreiber für die Dienste, die sie nutzen, bezahlen. Wenn bestimmte große Stromverbraucher von diesen Entgelten befreit werden, stellt dies eine unfaire Bevorteilung dar. Zudem wird die Last für die übrigen Verbraucher erhöht“, begründete Entscheidung.

Die Untersuchungen der Kommission hatten ergeben, dass die in den Jahren 2012 und 2013 gewährte vollständige Befreiung eine staatliche Beihilfe für die befreiten Stromverbraucher darstellte, da die Kosten aus der Paragraph-19-Umlage – also aus staatlichen Mitteln – gedeckt wurden. Die Befreiung im Jahr 2011 sei hingegen nicht als staatliche Beihilfe anzusehen, weil die Kosten von den Netzbetreibern selbst getragen und somit nicht vom Staat finanziert worden seien. Wie die EU-Kommission weiter mitteilt, gibt es nach den EU-Vorschriften für staatliche Beihilfen selbst bei konstantem Stromverbrauch keine objektive Rechtfertigung für eine vollständige Befreiung von Stromverbrauchern von Netzentgelten. Alle Verbraucher sollten für die Kosten aufkommen, die sie dem Netz verursachen.

Deutschland hatte im Zuge der Untersuchung nachgewiesen, dass die Großverbraucher und Abnehmer mit konstantem Verbrauch in den Jahren 2012 und 2013 aufgrund ihres konstanten und vorhersehbaren Verbrauchs geringere Kosten verursachten als andere Verbraucher. Aus Sicht der EU-Kommission rechtfertigt dieser Sachverhalt eine teilweise Verringerung der Netzentgelte für diese beiden Jahre. Jetzt müsse Deutschland nach der im Beschluss der Kommission festgelegten Methode für jeden Begünstigten der Befreiung die Höhe der von ihm in den Jahren 2012 und 2013 verursachten Netzkosten ermitteln und dann die illegalen Beihilfen von den einzelnen Begünstigten zurückfordern.

BMWi: „… grundsätzlich beihilferechtlich genehmigt“

Das Bundeswirtschaftsministerium erklärte zu der Entscheidung aus Brüssel: „Die damaligen Reduzierungen wurden grundsätzlich beihilferechtlich genehmigt, das aktuelle System der Stromnetzentgeltverordnung bleibt unangetastet und es gibt nur sehr begrenzte Rückforderungen.“ Die Rechtssicherheit der bestehenden Regelung sei eine gute Nachricht für die Unternehmen. Zudem begrüßte die Bundesregierung, dass „die höchstmögliche Begrenzung der Rückforderungssumme“ erreicht worden sei. Wie hoch die Rückforderungen für die Jahre 2012 und 2013 sein werden, konnte das Ministerium noch nicht beziffern. Die konkreten Beträge seien im Einzelfall zu bestimmen und vom Verbrauchsverhalten abhängig. Mit der Entscheidung der EU-Kommission sei die Bundesnetzagentur nun verpflichtet, für jedes einzelne der damals befreiten Unternehmen eine Berechnung vorzunehmen und die Summe zurückzufordern, hieß es weiter.

2014 hatte Deutschland die 2012 eingeführte Paragraph-19-Umlage wieder abgeschafft. Seitdem können Verbraucher mit konstantem Verbrauch beantragen, dass ihnen individuelle Netzentgelte auf der Grundlage der jeweils von ihnen verursachten Kosten berechnet werden. Diese neue Regelung war laut EU-Kommission nicht Gegenstand der Untersuchung.

Weitergehende Informationen

Hintergrund ist die deutsche Stromnetzentgeltverordnung. Von 2011 bis 2013 konnten stromintensive Unternehmen nach § 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV mit einem Jahresverbrauch von mehr als zehn Gigawattstunden und sehr konstantem Stromverbrauch vollständig von den Netzentgelten befreit werden. Gegen diese 100%ige Befreiung gingen nach ihrer Einführung 2011 mehrere Drittbeschwerden bei der Europäischen Kommission ein. 2013 stellte die Europäische Kommission fest, dass die Befreiung wahrscheinlich eine staatliche Beihilfe darstellt, die nach ihrer vorläufigen Auffassung rechtswidrig gewährt wurde, und eröffnete ein förmliches Prüfverfahren. Dieses Prüfverfahren wurde nun abgeschlossen.

Laut EU-Kommission hätten die Nutzer dank dieser Bestimmungen rund 300 Millionen Euro Netzentgelte gespart. Diese seien aus einer 2012 in Deutschland eingeführten Sonderabgabe, der sogenannten Paragraph-19-Umlage, gegenfinanziert worden, welche, die Stromendverbraucher entrichten mussten.

Die Bundesregierung begrüßte es dagegen, „dass es gelungen ist, zugunsten der betroffenen Unternehmen die höchstmögliche Begrenzung der Rückforderungssumme zu erreichen. Hierbei konnten Beschränkungen sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch hinsichtlich der Bestimmung der Rückforderungshöhe erreicht werden. Der Rückforderungszeitraum ist auf die Jahre 2012-2013 begrenzt.“

Wortlaut der Brüsseler Presseerklärung über die EU-Entscheidung: „…gegen die EU-Beihilferegeln verstieß…“

„Staatliche Beihilfen: Deutschland muss illegale Beihilfen von den großen Stromverbrauchern zurückfordern, die in den Jahren 2012-2013 von Netzentgelten befreit wurden

Die Europäische Kommission ist zu dem Schluss gelangt, dass die Befreiung von Netzentgelten, die in Deutschland bestimmten großen Stromverbrauchern in den Jahren 2012 und 2013 gewährt worden war, gegen die EU-Beihilferegeln verstieß. Es gab keine Gründe dafür, diese Verbraucher von der Zahlung der Netzentgelte zu befreien. Deutschland muss die illegalen Beihilfen zurückfordern.

EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager erklärte hierzu: „Alle Stromverbraucher müssen die Netzbetreiber für die Dienste, die sie nutzen, bezahlen. Wenn bestimmte große Stromverbraucher von diesen Entgelten befreit werden, stellt dies eine unfaire Bevorteilung dar. Zudem wird die Last für die übrigen Verbraucher erhöht. Deswegen muss Deutschland nun die nicht gezahlten Entgelte von diesen Stromverbrauchern einfordern.“

Netzentgelte sind ein Teil der normalen Stromkosten, die alle an das Netz angeschlossenen Stromverbraucher entrichten müssen. Damit werden den Netzbetreibern die von ihnen zur Verfügung gestellten Netzdienste und die Instandhaltung des Netzes vergütet. Bei großen Stromverbrauchern mit konstantem Stromverbrauch können die Netzkosten – insbesondere aufgrund des vorhersehbaren Verbrauchs – geringer ausfallen.

In Deutschland waren zwischen 2011 und 2013 Stromverbraucher mit einem Jahresverbrauch von mehr als 10 Gigawattstunden und sehr konstantem Stromverbrauch nach § 19 Absatz 2 der Stromnetzentgeltverordnung von der Zahlung von Netzentgelten befreit. Dank dieser Bestimmungen ersparten sich die Nutzer 2012 Schätzungen zufolge 300 Mio. EUR an Netzentgelten. Diese wurden aus einer 2012 in Deutschland eingeführten Sonderabgabe, der sogenannten Paragraph-19-Umlage, gegenfinanziert, die die Stromendverbraucher entrichten mussten.

Nachdem eine Reihe von Beschwerden von Verbraucherorganisationen, Stromanbietern sowie Bürgerinnen und Bürgern eingegangen war, leitete die Kommission im März 2013 eine eingehende Prüfung ein. Damit sollte festgestellt werden, ob diese Befreiung als staatliche Beihilfe anzusehen ist und ob sie nach den EU-Vorschriften über staatliche Beihilfen zulässig ist.

„>Die Untersuchungen der Kommission ergaben Folgendes:

  • Einkünfte aus der Paragraph-19-Umlage sind staatliche Beihilfen, da die Stromverbraucher nach deutschem Recht verpflichtet sind, diese Umlage zu zahlen und der deutsche Staat die Kontrolle über die Mittel ausübt.
  • Das bedeutet, dass die in den Jahren 2012 und 2013 gewährte vollständige Befreiung eine staatliche Beihilfe für die befreiten Stromverbraucher darstellte, da die Kosten aus der Paragraph-19-Umlage – also aus staatlichen Mitteln – gedeckt wurden. Die Befreiung im Jahr 2011 ist hingegen nicht als staatliche Beihilfe anzusehen, weil die Kosten von den Netzbetreibern selbst getragen wurden. Die Befreiung wurde somit nicht vom Staat finanziert.
  • Nach den EU-Vorschriften für staatliche Beihilfen gibt es – selbst bei konstantem Stromverbrauch – keine objektive Rechtfertigung für eine vollständige Befreiung von Stromverbrauchern von Netzentgelten. Alle Verbraucher sollten für die Kosten aufkommen, die sie dem Netz verursachen. Große Stromverbraucher mit konstanter Abnahme verursachen ebenfalls Netzkosten und nutzen Netzdienste. Die Kosten dafür müssen von ihnen getragen werden.
  • Deutschland wies jedoch nach, dass die Großverbraucher und Abnehmer mit konstantem Verbrauch in den Jahren 2012 und 2013 aufgrund ihres konstanten und vorhersehbaren Verbrauchs geringere Kosten verursachten als andere Verbraucher. Dies rechtfertigt angesichts der vorherrschenden Marktbedingungen eine teilweise Verringerung der Netzentgelte für diese beiden Jahre.

Jetzt muss Deutschland nach der im Beschluss der Kommission festgelegten Methode für jeden Begünstigten der Befreiung die Höhe der von ihm in den Jahren 2012 und 2013 verursachten Netzkosten ermitteln. Dann muss die Bundesrepublik die illegalen Beihilfen von den einzelnen Begünstigten zurückfordern.

Hintergrund:

2014 schaffte Deutschland die Befreiung (§ 19 Absatz 2 der Stromnetzentgeltverordnung) ab. Seitdem können Verbraucher mit konstantem Verbrauch beantragen, dass ihnen individuelle Netzentgelte auf der Grundlage der Kosten, die sie jeweils für das Netz verursachen, berechnet werden. Diese neue Regelung war nicht Gegenstand der Untersuchung der Kommission.

Die Kommission hat bereits Entscheidungen über Fälle staatlicher Beihilfen im Zusammenhang mit Subventionen getroffen, durch die die Stromkosten für bestimmte Unternehmen gesenkt wurden. Beispiele hierfür sind die Sondertarife, die in Italien für Alcova sowie für ThyssenKrupp, Cementir und Terni Nuova Industrie Chimiche, in Griechenland für Aluminium und ebenfalls in Italien für Portovesme, ILA und Eurallumina gewährt wurden. Dies ist der erste Fall, der eine vollständige Befreiung von Netzentgelten betrifft.

Sobald alle Fragen im Zusammenhang mit dem Schutz vertraulicher Daten geklärt sind, wird die nichtvertrauliche Fassung des Beschlusses über das Beihilfenregister auf der Website der GD Wettbewerb unter der Nummer SA.34045 zugänglich gemacht. Über neu im Internet und im Amtsblatt veröffentlichte Beihilfebeschlüsse informiert der elektronische Newsletter State Aid Weekly e-News.“

[note Solarify findet es höchst erstaunlich, welch gegensätzliche Erklärungen man aus ein- und derselben Entscheidung destillieren kann…]

->Quellen: