„Ambitionskultur der Umsetzung“ fehlt
Zusammen mit der sensationellen Kostensenkung von Strom aus Wind und Sonne scheint Klimaschutz sogar unter 2 Grad Temperaturanstieg – trotz mächtiger Bremser – einfach „machbar“. Warum also anstrengende sozial-ökologische Transformation planen, warum die Komfortzone aufgeben und nachhaltigeres Produzieren und Konsumieren umsetzen?
Das Problem ist: Die bisher vorherrschende bloße „Willkommenskultur“ für Sonne, Wind und Energieeffizienz macht den Realitätscheck bei fehlendem Tatendrang umso schmerzhafter. Es fehlt an einer „Ambitionskultur der Umsetzung“. Deutschland steht zwar bei weltweiten Rankings zur Energieeffizienz (ACEEE; https://bit.ly/2N0a48Z ) mit an der Spitze. Aber selbst beim scheinbaren „Effizienzweltmeister“ klafft zwischen den offiziellen Sparzielen der Energiewende für 2020 und dem tatsächlichen Fortschritt in allen Sektoren eine große und bei unverändertem Politikdesign bis 2030/2050 eine größer werdende Lücke.
„Ambitionskultur der Umsetzung“ verlangt neues Denken über eine „Ökonomie des Vermeidens“ (von Energieverbrauch), über eine praxisorientierte Strategie „Energy Efficiency First“ mit zielgerichteten und ambitionierten Politikpaketen und über eine „polyzentrische Governance“ der Energiesparpolitik mit klarer Prozess- und Steuerungsverantwortung. Und sie verlangt auch im Gebäudebereich ein kräftiges Anreizprogramm, damit die Hemmnisse der energetischen Sanierung überwunden und die Vorteile, eine hohe Selbstfinanzierungsquote für den Bundeshaushalt und umfangreiche Beschäftigungseffekte, wirklich eingefahren werden können.
Den gesamten Primärenergieverbrauch in einem Hightech-Land wie Deutschland bis 2050 zu halbieren und gleichzeitig die Lebensqualität aller und in allen Lebensbereichen zu sichern ist eine Jahrhundertaufgabe, ohne historisches Beispiel.
Wie kann eine „Ökonomie des Vermeidens“ mehr Wohlstand schaffen im Vergleich zum gewohnten „Drang und Zwang“ (Prof. Binswanger) nach unqualifiziertem, rein monetärem Wirtschaftswachstum?
Damit dies gelingt müssen vier Strategien gleichzeitig verfolgt werden:
- Es muss ein offensiver gesellschaftlicher Dialog darüber geführt werden, dass ambitionierte absolute Energiesparziele keine „nice to have“-Politik sind, sondern eine verbindliche Handlungsnotwendigkeit. Denn halbierter Energieverbrauch ist zwingend notwendig für ausreichenden Klimaschutz, für weniger Importabhängigkeit, für vorbeugende Krisen- und Friedenspolitik, für Energiekostensenkung mit 100% erneuerbaren Energieangebot und für Gesundheitsschutz und Vermeidung von tausenden vorzeitiger Sterbefälle. Ein EU-Projekt (COMBI; Konsortialführung Wuppertal Institut, link s.o.) hat eine Vielzahl „Multipler Benefits“ einer Energiesparstrategie für alle europäischen Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2030 quantifiziert und möglichst monetarisiert: Enorme Gesundheitseffekte (z.B. drastische Senkung vorzeitiger Todesfälle), Einsparung von 850 Million Tonnen an Material, (qualitatives) zusätzliches Wirtschaftswachstum von 1% pro Jahr und reduzierte Energieimportkosten von 48 Mrd.€ sind einige der Vorteile, die in dieser bahnbrechenden Studie nachgewiesen wurden.
- Es muss vermieden werden, dass Wirtschafts- und Wohlstandswachstum sowie Reboundeffekte die Energie- und Ressourcen-(kosten)einsparung durch maximale Effizienzsteigerung bei Geräten, Fahrzeugen, Prozessen und Gebäuden in der Gesamtbilanz wieder zunichte machen. Effizienzpolitik mit Suffizienzpolitik zu integrieren kann dies verhindern. Ambitionierte Mengenbegrenzung (z.B. durch Obergrenzen des Energie- und Ressourcenverbrauchs für eine Energiedienstleistung, Bonus-/Malussysteme), eine ökologische Steuerreform, Anreize für nachhaltigere Lebens- und Produktionsstile sowie Wohnformen, massive Förderung sozialer Dienstleistungen, Aufklärung, Bildung und Erziehung sind Kernbestandteile einer flankierenden Suffizienzpolitik. Wir brauchen auch einen gesellschaftlichen Konsens darüber, welche grünen Geschäftsfelder rascher wachsen müssen (z.B. Erneuerbare Energien, Recycling, Energie- und Ressourceneffizienz, soziale Dienstleistungen, nachhaltige Mobilität) und wie braune Risikobereiche (z.B. der fossil-nukleare Industriekomplex) zur Diversifizierung gedrängt und durch vorsorgende sozial-ökologische Industrie- und Strukturpolitik sozialverträglich aus dem Markt gesteuert werden können – allen voran die Braunkohle.
- Mit geschätzt mehr als 100 Instrumenten und Maßnahmen bemühen sich – insgesamt vielleicht 500 – Experten in Bundes- und Landesministerin, in der Deutsche Energieagentur (Dena), in der Bundesanstalt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) oder in landes- und kommuneneigenen Energieagenturen, die beschlossenen Energiesparziele erreichbar zu machen; trotz wachsender Kompetenzen und bei zweifellos gutem Willen mit leider mäßiger gesamtgesellschaftlicher Wirkung! Eine wesentlicher Teil der gigantischen Chancen ambitionierter Energiesparpolitik bleibt daher jedes Jahr unerreicht – monetär bewertet viele Milliarden Euro pro Jahr. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die bisher eingesetzten Mittel für das notwendige Energiesparpaket „Anreize, Ordnungsrecht, Information“ (die Angelsachsen sagen bildhafter: „carrots, sticks and tambourines“) und ein relativ kleiner Expertenpool – graduell ergänzt durch weitere Einzelmaßnahmen – allein ausreichen, die klaffende Energiesparlücke zu schließen. Ein grundsätzliches Überdenken des Maßnahmen- und Umsetzungsdesigns ist notwendig, um die Energiesparziele des Energiewendebeschlusses (2010/2011) zu erreichen. Dänemark zeigt, dass es geht: dort werden jährlich mehr als 2% des Energieverbrauchs durch Energieeffizienzmaßnahmen eingespart.
- Angesichts von Millionen von Akteuren und hunderten zum Teil konkurrierenden Technologien, einer Vielzahl von Hemmnissen und von Marktversagen auf dem „Markt für Energiedienstleistungen“ bedarf es zur Überwindung der Barrieren für einen funktionsfähigen Markt, zur Herstellung von Markttransparenz und für gesicherte Zielerfüllung eines neuen Ordnungsrahmens. Er wird hier nach einem Konzept des Wuppertal Instituts (https://bit.ly/2J5NrxN) „polyzentrische Governance“ genannt.Gemeint ist damit, dass eine Bundeseffizienzagentur (BAEff) ausgestattet wird mit 1. dem politischen Mandat, die Prozess- und Steuerungsverantwortung für die Erreichung des Energiesparziele zu übernehmen, 2. einem ausreichenden Expertenpool und 3. einem angemessenen Anreizbudget (Energieeffizienzfonds mit mindestens verdoppeltem Umfang gegenüber den heutigen Haushaltsmitteln für Energieeffizienz, also rund 5 Mrd. Euro pro Jahr).„Polyzentrisch“ deshalb, weil es der Koordinierung und Unterstützung der Vielzahl dezentraler Akteure (z.B. Landesministerien, Energieagenturen, Stadt- und Regionalplanungen) sowie der Etablierung von Unternehmensnetzwerken bedarf um diese anspruchsvolle Gesamtverantwortung in die Tat umzusetzen. 2.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesnetzagentur kümmern sich (zu Recht) um das Energieangebot und die Netzsysteme, hinzu kommen auf der „Energieangebotsseite“ einige Zehntausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Energieanbieter. Dass die weitaus komplexere Energienachfrage mit nur einigen Hundert Experten nicht in Richtung Halbierung (bis 2050) „gesteuert“ werden kann sollte eigentlich auch denen einleuchten, denen reflexhaft bei jeder neuen und sachgerechten Bundesinstitution der Vorwurf „Bürokratie und Dirigismus“ einfällt. Die BAEff entspricht der Forderung der „Expertenkommission zum Monitoring Prozess (Juni 2018)“ nach „einem grundsätzlichen Überdenken des Maßnahmendesigns“ und der „Einrichtung wirkungsvoller Institutionen“. Sie sollte daher in dem von der Bundesregierung angekündigten Klimaschutzgesetz verankert werden.
Nicht oder nur zögerlich handeln bei der Energiesparpolitik bedeutet, gewaltige Chancen für die Gesellschaft, für die Wirtschaft und für die Ökologie zu vergeben. Aber es kommt noch viel schlimmer: Es kostet den Bundeshaushalt bald Milliarden pro Jahr! Wegen verpflichtender nationaler CO2-Minderungziele im Rahmen der EU muss die Bundesrepublik bei anderen EU-Ländern CO2-Zertifikate bei Nichterfüllung zukaufen. Gehen 50% der unerfüllten Reduktionspflichten auf das Konto „unterlassener Effizienzsteigerung“ dann kann dies 2021-2030 nach einer Rechnung des Oko-Instituts zwischen 2,5 und 15 Mrd. Euro pro Jahr für Zertifikatszukäufe kosten (https://bit.ly/2zjtBzr).
Wollen wir uns diese Finanzrisiken wirklich leisten?
Die Autoren
Dr. Stefan Thomas ist seit 25 Jahren am Wuppertal Institut und leitet seit 15 Jahren die Abteilung Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik. 1991-1993 war der studierte Physiker wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter im Bereich Energie des Öko-Instituts Darmstadt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Energieeffizienz- und Klimaschutzpolitik, Markttransformation für energieeffiziente Geräte und Anlagen, Energiedienstleistungen im liberalisierten Markt und Regulierung der Energiewirtschaft.
Professor Dr. Peter Hennicke studierte Chemie und Volkswirtschaftslehre in Heidelberg und wurde danach an die Universität Osnabrück berufen. Nach Tätigkeiten in der Unternehmensplanung eines regionalen Versorgungsunternehmens sowie als Referent für Grundsatzfragen der Energiepolitik im Hessischen Ministerium für Umwelt und Energie arbeitete er von 1988 bis 1992 an der Fachhochschule Darmstadt. Das langjähriges Vorstandsmitglied des Öko-Instituts Freiburg war Mitglied dreier Enquete-Kommissionen: „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ des 11. Deutschen Bundestages, „Schutz der Erdatmosphäre“ des 12. Deutschen Bundestages und „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“ des 14. Deutschen Bundestages. 1992 wurde er Direktor der Abteilung Energie am Wuppertal Institut, 1998 Vizepräsident, 2000 folgte er Ernst Ulrich von Weizsäcker als Amtierender Präsident des Wuppertal Instituts nach, 2003 wurde er Präsident (bis 2008). Hennicke kooperiert weiterhin eng mit dem Wuppertal Institut in Projekten, u. a. im Themenbereich “Ressourceneffizienz” und beim „German Japanese Energy Transition Council“ . Er ist Träger des “Deutschen Umweltpreises” der Deutschen Bundesstiftung Umwelt.
[note Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH
Das Wuppertal Institut erforscht und entwickelt Leitbilder, Strategien und Instrumente für Übergänge zu einer nachhaltigen Entwicklung auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Im Zentrum stehen Ressourcen-, Klima- und Energieherausforderungen in ihren Wechselwirkungen mit Wirtschaft und Gesellschaft. Die Analyse und Induzierung von Innovationen zur Entkopplung von Naturverbrauch und Wohlstandsentwicklung bilden einen Schwerpunkt seiner Forschung. Im Fokus der Forschung des Wuppertal Instituts stehen Transformationsprozesse zu einer Nachhaltigen Entwicklung. Die Forschungsarbeiten hierzu bauen auf disziplinären wissenschaftlichen Erkenntnissen auf und verbinden diese bei der transdisziplinären Bearbeitung komplexer Nachhaltigkeitsprobleme zu praxisrelevanten und akteursbezogenen Lösungsbeiträgen. Problem, Lösungsansatz und Netzwerke sind dabei gleichermaßen global, national sowie regional/lokal ausgerichtet. (wupperinst.org)]