Doch mehr Platz im Emissionsbudget?

„In Wahrheit haben wir keine Zeit zu verlieren“

Vor einigen Monaten erschien im Fachjournal Nature Geoscience eine Studie mit dem Fazi, bis zur Schwelle von 1,5 °C Erderhitzung könne die Menschheit noch deutlich mehr Kohlendioxid ausstoßen als gedacht. Man könne sich mit Klimaschutz mehr Zeit lassen, hieß es daraufhin in einigen Medienberichten. Stimmt das wirklich? Und wie kam die Studie überhaupt zu ihren Ergebnissen? Antworten auf diese und weiteren Fragen gibt der Berliner Klimaforscher Carl-Friedrich Schleussner auf Fragen von Toralf Staud im Portal klimafakten.

Die 1,5-Grad-Grenze – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Herr Dr. Schleussner, bislang kamen wissenschaftliche Studien zu dem Ergebnis, dass es praktisch nicht mehr zu schaffen sei, die Erderwärmung noch unter 1,5 °C zu halten. Laut neuester Forschung sieht das anders aus, oder?

Ich wäre da vorsichtig, ich sehe keinen Quantensprung in der Forschung. Und es stimmt auch nicht, dass Studien unisono gesagt hätten, das Ziel sei unerreichbar. Dass es nicht unmöglich ist, zeigt ein Blick auf die Temperaturdaten: Je nachdem, welchen Datensatz man heranzieht, liegen wir im Moment bei etwa 1 bis 1,1 °C menschengemachter Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau. Und die Erwärmung schreitet momentan mit etwa 0,2 °C pro Jahrzehnt voran. Also ist schon noch etwas Luft bis 1,5 °C, dem im Pariser Abkommen genannten Limit. Aber Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Zeit – deshalb ist es eine große Herausforderung, die Grenze noch zu halten, und wir haben keine Zeit zu verlieren.

Aber laut der Studie in Nature Geoscience haben wir doch deutlich mehr Zeit…?

Langsam! Diese Studie bezieht sich – wie auch etliche andere – auf ein Konzept namens CO2-Budget. Es leitet sich aus einer zentralen Erkenntnis der Klimaforschung ab: Nämlich dass die globale Mitteltemperatur mit der Gesamtmenge der ausgestoßenen Treibhausgase steigt. Das heißt, dass jedes Gramm an Kohlendioxid oder anderer Treibhausgase, das wir ausstoßen, zu einer weiteren Erwärmung beiträgt. Und dass der Temperaturanstieg erst dann zum Stillstand kommt, wenn wir keine weiteren Emissionen verursachen.

 

Im Prinzip kann man daher für jedes Temperaturziel, das man erreichen möchte, die ungefähre Menge der Treibhausgase abschätzen, die noch in die Atmosphäre gelangen dürfen. Das Problem ist, dass es dabei eine Reihe von Unsicherheiten und Unschärfen gibt. Sie beziehen sich zum Beispiel auf das Klimasystem, also dass wir nicht exakt wissen, mit genau welcher Erwärmung das komplexe Klimasystem auf eine bestimmte Menge an Treibhausgasen reagiert. Daneben gibt es Unsicherheiten bei der Erfassung der menschengemachten Treibhausgase – also wieviel weltweit wirklich ausgestoßen wird. Nicht zuletzt ist nicht ganz sicher, um exakt wieviel Zehntelgrad der Mensch die Erde bereits erwärmt hat. Solche Ungewissheiten sind der normale Gang der Wissenschaft, das ist in anderen Forschungsgebieten nicht anders.

Aus diesen und weiteren Gründen machen Studien zum CO2-Budget stets eine wichtige Einschränkung: Es ist nicht gewiss, dass die dort genannten Mengen noch ausgestoßen werden können, bevor eine bestimmte Temperaturgrenze erreicht ist – sondern es heißt zum Beispiel, dass bei diesem oder jenem Wert eine 66-prozentige Wahrscheinlichkeit bestehe, unter der genannten Temperatur zu bleiben …

was ja keine sehr große Wahrscheinlichkeit ist. Wenn mir am Flughafen ein Pilot sagen würde, sein Flugzeug komme mit 66prozentiger Wahrscheinlichkeit sicher an – ich weiß nicht, ob ich da einsteigen würde. Das hieße, dass jedes dritte Flugzeug abstürzt.

Klar, die Sicherheit ist nicht sehr hoch. Aber das ist das übliche Maß in solchen Studien. Will man die Wahrscheinlichkeit auf 80 Prozent erhöhen …

was von einer landläufigen Vorstellung von „Sicherheit“ immer noch weit entfernt wäre…

… dann wird das verbleibende CO2-Budget deutlich kleiner.

Zurück zu dieser neuen Studie: Ein Team um den britischen Klimaforscher Richard Millar kam darin zu dem Ergebnis, dass das verbleibende CO2-Budget bis zur 1,5°-Grenze viel größer ist als in anderen Studien beziffert. Ist das eine gute Nachricht?

Die Frage ist erst einmal, ob das überhaupt eine Nachricht ist. Das ist sicherlich eine Analyse, die einen wichtigen Beitrag zur Forschung leistet. Die Arbeit ist wissenschaftlich auch völlig solide. Aber es gibt viele andere, die genauso solide sind und zu deutlich anderen Ergebnissen kommen. Deshalb stellt sich für mich die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, das Konzept eines CO2-Budgets im Kontext des 1,5°-Limits zu verwenden. Es ist ja unbestritten, dass wir schon heute ziemlich nahe an den 1,5 °C liegen. Bei der verbleibenden, ziemlich kleinen Temperaturspanne von 0,4 bis 0,5 °C und den erwähnten Unsicherheiten solcher Studien haben schon geringe Unterschiede in der Methodik oder den Grundannahmen sehr starke Folgen für das Ergebnis.

Folgt: „Politik auf eine einzelne Studie zu stützen, ist generell nicht ratsam“