2. Warum die Eiszunge des Pine-Island-Gletschers plötzlich schrumpfte
AWI-Forscher kartierten den Meeresboden vor dem Pine-Island-Gletscher und lüfteten per Zeitraffer-Video das Geheimnis seines abrupten Rückzuges: Der Pine-Island-Gletscher in der Westantarktis gehört nicht nur zu den am schnellsten fließenden Eisströmen auf der Südhalbkugel; in den zurückliegenden elf Jahren sind auch viermal große Eisberge von seiner schwimmenden Eiszunge abgebrochen. Wissenschaftlern an Bord des deutschen Forschungseisbrechers Polarstern ist es im Februar 2017 gelungen, den Meeresboden zu kartieren, der noch kurz zuvor vom Gletschereis bedeckt war. Ein Abgleich dieser neuen Karten mit Satellitenaufnahmen des Eisstromes verrät nun, warum sich der Gletscher plötzlich so weit Richtung Küste zurückgezogen hat: Er hatte an wichtigen Punkten die Bodenhaftung verloren, berichten die Forscher im Online-Fachmagazin The Cryosphere, einem Journal der European Geosciences Union („Bathymetric controls on calving processes at Pine Island Glacier„).
Der Pine-Island-Gletscher in der Westantarktis gehört mit einer Fließgeschwindigkeit von vier Kilometern pro Jahr zu den am schnellsten fließenden Eisströmen auf der Südhalbkugel. Gemeinsam mit seinen benachbarten Gletschern transportiert der bis zu 50 Kilometer breite Eisstrom jährlich mehr als 300 Gigatonnen Landeis in das Amundsenmeer und trägt aktuell fünf bis zehn Prozent zum weltweiten Meeresspiegelanstieg bei. Die Ursache für dieses schnelle Abfließen des Eises haben Forscher bereits gefunden. Warme Wassermassen, die aus dem Zirkumpolarstrom abzweigen, gelangen seit den 1940er Jahren unter den schwimmenden Teil des Pine-Island-Gletschers und schmelzen das sogenannte Schelfeis von unten. Die heute rund 55 Kilometer lange Eiszunge verliert auf diese Weise seit 25 Jahren bis zu 5,3 Meter Eisdicke pro Jahr.
Unbekannt war bislang allerdings, warum sich trotz dieser langanhaltenden Schmelze die Abbruchkante des Pine-Island-Gletschers seit Beginn seiner Beobachtung im Jahr 1947 kaum zurückgezogen hatte. Erst im Jahr 2015 gab es einen einschneidenden Eisbergabbruch, in dessen Folge sich die Schelfeiskante um 20 Kilometer Richtung Küste verlagerte und die schwimmende Eiszunge auf eine Fläche von rund 470 Quadratkilometern schrumpfte.
„Die Fließrichtung und die Fließgeschwindigkeit eines Gletschers hängen stark von der Topographie seines Untergrundes ab. Von den meisten Schelfeisen der Antarktis aber kennen wir das Relief des darunter liegenden Meeresbodens kaum. Unsere Polarstern-Expedition im Februar 2017 bot deshalb die einmalige Chance, 370 Quadratkilometer jenes Meeresgebietes zu kartieren, das in den Jahren zuvor noch großflächig vom Schelfeis des Pine-Island-Gletschers bedeckt worden war“, erklärt Erstautor Jan Erik Arndt vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Mit Hilfe von Fächerecholoten hatten Arndt und seine Kollegen den Meeresboden genau kartiert.
Untersee-Berge dienten als Eisbremse
Die neuen Karten vom Meeresboden in der überwiegend 800 bis 1000 Meter tiefen Pine-Island-Bucht zeigen einen bislang unbekannten unterseeischen Höhenzug sowie zwei unterseeische Berge, deren Gipfel jeweils bis in eine Wassertiefe von 370 Metern und flacher hinaufragen. Auf dem Höhenzug muss das mehr als 400 Meter dicke Schelfeis des Pine-Island-Gletschers viele Jahrzehnte lang aufgelegen haben, wie die von den Forschern zusammengetragenen Satellitenaufnahmen des Gletschers belegen. Diese reichen bis in das Jahr 2002 zurück. Auf den älteren Aufnahmen sind an genau jenen Stellen, an denen sich Gipfel des unterseeischen Höhenzuges unter dem Schelfeis befinden, Erhebungen in der Eisoberfläche zu erkennen. „Ab dem Jahr 2006 sind diese markanten Punkte jedoch nicht mehr zu sehen. Das Schelfeis muss bis zu diesem Zeitpunkt so weit von unten abgeschmolzen sein, dass es entweder zu leicht war, um noch einen Abdruck an der Eisoberfläche zu produzieren, oder die Eisfläche hatte bereits den Kontakt zu den darunterliegenden Bergen verloren“, sagt Mitautor Karsten Gohl vom AWI.
Wenn ein Schelfeis den Kontakt zu einem solchen Hindernis verliert, reagiert der Eisstrom, als hätte jemand den Bremsklotz weggezogen. Die Eismassen haben plötzlich freie Bahn und fließen mit zunehmendem Tempo Richtung Meer – so heißt es zumindest in der Theorie. Anhand der Satellitenzeitreihe vom Pine-Island-Gletscher konnten die Wissenschaftler diese These nun Schritt für Schritt überprüfen. Überrascht stellten sie dabei fest, dass unterseeische Erhebungen ein Schelfeis nicht nur wie ein Bremsklotz stabilisieren. Unter gewissen Umständen können die Berge auch den Abbruch eines Eisberges auslösen – etwa wenn die Schelfeiskante vorrückt und dabei mit voller Wucht auf eine Erhebung aufläuft.
Einen solchen Zusammenstoß muss es bei einem Eisbergabbruch im Jahr 2007 gegeben haben. Wie die Satellitenaufnahmen zeigen, ist die Schelfeiskante des Pine-Island-Gletschers damals auf einen der neu entdeckten Unterseeberge aufgelaufen und wurde an der Aufprallstelle so stark gestaucht, dass sich Risse in der Eisfläche bildeten. Als einer dieser Risse zu groß wurde, brach der gesamte vordere Bereich des Schelfeises ab. (Video 1)
Ähnlich, jedoch etwas weniger dramatisch, verhielt es sich beim Abbruch des Eisberges im Jahr 2015. Der zunächst einzeln gekalbte Koloss zerbrach binnen weniger Wochen in mehrere Teile. Sein größtes Teilstück blieb anschließend fast ein ganzes Jahr lang an dem unterseeischen Höhenzug hängen und drehte sich so lange im Uhrzeigersinn, bis es endlich durch das Zusammenspiel von Meeresströmungen, Wind und Schmelze befreit wurde. Die Forscher vermuten, dass wie im Jahr 2007 der wiederholte Kontakt des Schelfeises mit dem Höhenzug zum finalen Abbrechen dieses Eisberges geführt hatte. (Video 2)
Schelfeis hat neuen Halt gefunden
„Derzeit verläuft die rund 50 Kilometer lange Schelfeiskante des Pine-Island-Gletschers zwischen einer Insel im Norden und einem weiteren Gletscher im Süden, die dem Eis wieder etwas Halt geben“, sagt Jan Erik Arndt. Wenn die Eisschmelze an der Schelfeisunterseite jedoch weiter voranschreiten sollte, kann dieser Prozess irgendwann auch dazu führen, dass das dann wesentlich dünnere Schelfeis an sich instabil wird. Bei einer aktuellen Eisdicke von etwa 400 Metern an der Schelfeiskante sei dieser Punkt aber noch nicht erreicht, berichten die Wissenschaftler.
Die bathymetrischen Karten vom Meeresgrund der Pine-Island-Bucht sowie die Ergebnisse der Bildanalysen können jetzt in Computermodelle der westantarktischen Gletscher einfließen und sollen helfen, deren Simulationsgenauigkeit zu erhöhen.
Neben den zwei Wissenschaftlern vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung waren außerdem noch ein Forscher des British Antarctic Survey sowie Experten vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt an der neuen Studie beteiligt.