Kapriolen im Computer

Statistik macht Zusammenhänge plausibel

Doch Vorsicht: Bei solchen relativ kurzen Zeitreihen muss man bedenken, dass sie längst nicht alle möglichen Szenarien abdecken. Vielleicht steigt der Pegel im nächsten Sommer noch höher als in all den Jahren zuvor, auch ohne Klimawandel. Denn nach 65 Jahren kann niemand sagen, wie hoch das Wasser maximal steigen kann. Vielleicht ist das Jahrhunderthochwasser von 2002 also kein Indiz für den Einfluss des Treibhauseffekts, sondern verbessert lediglich die künftigen statistischen Berechnungen. Dann müssen die Hydrologen nur das hundertjährliche Hochwasser anpassen, das als Bemessungsgrundlage für die Schutzmaßnahmen gilt.

Kantz beschreibt den Unterschied – wie es sich für einen Grundlagenforscher gehört – in allgemeiner Form: ,,Habe ich eine zusätzliche Realität oder eine andere Realität?“ Die zusätzliche Realität meint in diesem Fall ein neues Maximum, und hinter der veränderten Realität verbirgt sich der Klimawandel, der ganz neue Randbedingungen schafft.

Auf den ersten Blick scheint es fast unmöglich, Klarheit in den Zusammenhängen zu gewinnen. Selbst die Statistik mit ihren bewährten Formeln liefert keine Sicherheit. „Wir können nie etwas beweisen“, sagt Kantz, „sondern nur Zusammenhänge plausibel machen.“ Dabei gehen er und seine Mitarbeiter oft so vor: Zunächst nehmen die Forscher an, dass der Klimawandel keinen Einfluss etwa auf das Hochwassergeschehen der Elbe hat, und erzeugen im Computer viele mögliche Datenreihen, die mit dieser Annahme vereinbar sind. Zu diesen Kurven gelangen die Wissenschaftler auf verschiedenen Wegen. Unter anderem würfeln sie die tatsächlich gemessenen Werte neu zusammen und erhalten so Zeitreihen, in denen die Daten zufällig kombiniert sind. Diese vergleichen sie anschließend mit den realen Messreihen der Pegelstände.

Überschwemmung der Schwarzen Elster 2016 – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Hochwasser-Datenreihe: Befund statistisch nicht aussagefähig

Spielt der Klimawandel tatsächlich eine Rolle, muss die gemessene Datenreihe weit aus der Reihe tanzen. Das tut sie im Fall der Elbe aber nicht. Obwohl der erste Blick also suggeriert, dass der Klimawandel schon einen erheblichen Einfluss hat, liefert die Statistik keine eindeutige Aussage – der Befund ist statistisch nicht signifikant. „Doch das ist kein Grund zu jubeln“, gibt Kantz zu bedenken, „es zeigt nur, dass unsere Messreihe für eine eindeutige Aussage nicht ausreicht.“

Dass der Augenschein oder das Bauchgefühl bei statistischen Aufgaben schlechte Ratgeber sind, zeigt das Beispiel mit dem Würfel. Nach zahlreichen Würfen ohne eine Sechs tendiert man dazu, beim nächsten Wurf mit dieser Zahl zu rechnen. Irgendwann muss sie doch kommen, denkt man. Doch das ist ein Trugschluss: Jedes Mal ist die Wahrscheinlichkeit erneut ein Sechstel. Denn der Würfel hat kein Gedächtnis. Roulettespieler haben schon viel Geld verloren, weil sie auf ihr Gefühl hörten und schlauer als die Statistiker sein wollten.

Klimawandel als Extremwetter- und Dürre-Ursache nicht beweisbar

Nicht nur beim Elbehoch- (oder beim Rheinniedrig-) -wasser, auch bei der Analyse von Temperaturdaten in Deutschland kommt Kantz auf unerwartete Ergebnisse. Bevor er loslegen konnte, musste er sich allerdings mit den Standorten der einzelnen Messstationen beschäftigen. Manche Wetterstation, die einst auf der grünen Wiese installiert wurde, ist heute von Häusern umgeben. Städte entwickeln aber ein eigenes Klima, sie heizen sich auf, weil die vielen Häuser aus Stein die Sonnenwärme speichern. Dieser Urban-warming-Effekt verfälscht die Berechnungen und suggeriert einen Klimawandel, den es möglicherweise gar nicht gibt. Kantz hat solche Stationen deshalb gar nicht erst berücksichtigt.

Die verbliebenen Datenreihen bearbeitete er mit seinem statistischen Instrumentarium – und kam auf eine ähnliche Aussage wie beim Elbehochwasser: Man kann nicht eindeutig nachweisen, dass der Klimawandel die Temperaturen bereits beeinflusst, es gibt keine statistische Signifikanz. Das gilt für mehr als die Hälfte der über hundert Stationen.

Das Ergebnis verwundert umso mehr, als Meteorologen ständig von neuen Temperaturrekorden sprechen. Dass es wärmer wird, ist kein Geheimnis, jeder kann es spüren. Hier zeigen sich die Grenzen der statistischen Methoden. Denn sobald Kantz lediglich die letzten 30 Jahre betrachtet, erhält er ganz andere Resultate. Dann macht sich der Klimawandel sehr deutlich bemerkbar, nimmt sogar bedrohliche Züge an. Verwendet er aber die vergan­genen 100 Jahre als Ausgangsbasis, verschwimmt das Bild. Da die Temperatu­ren zunächst stark schwankten, wurde der Trend verwässert. Die starke Fluktuation versteckt den Klimawandel.

Ein statistischer Nachweis für den Klimawandel

Betrachtet man die Ergebnisse aller Sta­tionen, kommt man dennoch ins Grü­beln: Sämtliche Stationen zeigen einen positiven Trend. Die Werte sind zwar nicht groß genug, dass man von einer statistischen Signifikanz sprechen könnte, doch der Gleichklang macht stutzig. Alle Werte liegen auf der positiven Seite – das kann doch kein Zufall sein. Kantz spricht von einem intrinsischen Wider­spruch. Der ließe sich allerdings auch ohne Klimawandel erklären: Die Wetterstationen in Deutschland sind nicht unabhängig voneinander, da überall meist dieselbe Wetterlage herrscht. Ein Tiefdruckgebiet macht meist nicht in Hamburg halt, sondern hinterlässt auch in München seine Spuren.

Erst als Kantz auch ausländische Stationen, die von anderen Wetterlagen geprägt sind, in seine Berechnungen einfügte, änderte sich das Bild. Die star­ken Ausschläge in den einzelnen Regi­onen hoben einander auf – und ein signifikanter Trend zu höheren Tem­peraturen wurde sichtbar. Der Klimawandel ließ sich statistisch nachweisen. Diese unterschiedlichen Resultate kön­nen irritieren. Doch Kantz betont, dass er keineswegs Zweifel am Klimawandel schüren will. Seine Untersuchungen zeigen vielmehr, dass die Statistik vor falschen Schlussfolgerungen schützen kann, vor allem wenn es um regionale Ereignisse geht.

Was Holger Kantz Kopfzerbrechen bereitet, ist eine seltsame Erkenntnis: „Unser Klimasystem hat eine Art Gedächtnis“, sagt er. Das klingt eher nach Esoterik als nach ernsthafter Wissen­schaft. Und doch steckt dahinter ein Problem, das den Physiker und seine Kollegen beschäftigt. Kantz bringt wie­der das Beispiel mit dem Würfel, bei dem die Wahrscheinlichkeit für eine Sechs immer ein Sechstel beträgt. Der Würfel hat also kein Gedächtnis. Beim Wetter ist das anders. Hier scheint die Vergangenheit Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Wenn es heute regnet, wird es morgen wieder regnen – zumindest mit einer größeren Wahrscheinlichkeit, als dass die Sonne scheint. Meteoro­logen kennen das Phänomen als Persistenz. Wer überhaupt keine Ahnung vom Wetter habe, sagen sie, solle sich an diese Regel halten.

Extremereignisse treten stets gehäuft auf

Aber woher kommt diese Konstanz? Natürlich reagieren Wind und Wetter mit einer gewissen Trägheit – ein Tiefdruckgebiet be­stimmt stets mehrere Tage lang das Wetter. Doch selbst wenn man diese Trägheit herausrech­ne, sagt Kantz, bleibe das Phänomen bestehen. Er spricht von langreichweitigen Korrelationen.

Das Erinnerungsvermögen macht sich nicht nur bei kurzfristigen Entwicklungen über wenige Tage bemerk­bar, sondern auch bei langfristigen über Monate und Jahre. Und es hat Auswir­kungen auf Extremereignisse wie Stür­me und Überschwemmungen: Sie treten stets gehäuft auf, also in Clustern, mit langen Pausen dazwischen. Als Ur­sache vermutet Kantz die enorme Komplexität der Atmosphäre. Hier spielen Phänomene zusammen, die in Zeit und Raum mehrere Größenordnungen auseinander liegen. Es gibt Augenblickserscheinungen wie einen Blitz und langfristige Geschehen wie den Monsun. Auch die Größe der Mitspieler ist extrem unterschiedlich, vom winzigen Luftmolekül über die große Gewitterwolke bis zum gewaltigen Jetstream. Und alles hängt mit allem zusammen.

Um solche Systeme besser zu verstehen, arbeitet Kantz mit vereinfachten Computermodellen, die alle relevanten Eigenschaften der komplexen Realität besitzen, aber einfacher zu handhaben sind. Dabei will er etwa klären, warum große Strukturen träge reagieren, kleine aber ausgesprochen flink. Auch erhofft er sich eine Antwort auf die Frage, wie lang eine Messreihe sein muss, bis alle möglichen Zustände eingetreten sind. Dann könnte er die Hochwasserstatistik der Elbe besser verstehen. Vielleicht findet er auch eine Ursache für das seltsame Wettergedächtnis. Eine Vermutung hat er schon: Möglicherweise gibt es beim Klima sehr langfristige Phänomene über Jahrhunderte, die überhaupt noch nicht bekannt sind. Sie würden ein Gedächtnis vortäuschen, das es gar nicht gibt. Kantz: „Vielleicht haben wir einfach nur zu kurze Messreihen.“

Komplexe Realität in prägnanter Form – Die Welt steckt voller komplexer Systeme, sei es die Atmosphäre, der Blutkreislauf oder ein Fluss. Mit Messinstrumenten lässt sich beobachten, wie Systeme reagieren. So entstehen lange Datenreihen, sei es über den Niederschlag, die Herzfrequenz oder die Pegelstände. Holger Kantz analysiert das dynamische Auf und Ab und zieht daraus Schlüsse. Letztlich geht es darum, Vorhersagen machen zu können. Ein wichtiges Werkzeug dafür ist die Zeitreihenanalyse. Kantz und sein Team extrahieren aus dem Datenwust wichtige Kenngrößen wie den Mittelwert, die Varianz oder einen Trend. Die Herausforderung besteht darin, Größen zu finden, die in prägnanter Form die komplexe Realität widerspiegeln. Letztlich kann man das Vorgehen als Datenkompression bezeichnen, denn die Dresdner Forscher specken die vielen Messwerte ab und ziehen die Essenz daraus. Dabei müssen sie freilich darauf achten, keine wichtigen Details zu verlieren.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT

  • Extreme Wetterereignisse wie Stürme, Dürren und Niederschläge, die zu Überschwemmungen führen, könnten durch den Klimawandel sowohl häufiger als auch stärker werden.
  • Holger Kantz entwickelt mit seinem Team statistische Methoden, mit denen sich Zeitreihen daraufhin analysieren lassen, ob sich die Frequenz und die Intensität von Extremereignissen verändern.
  • Für die Hochwasser der Elbe lässt sich das nicht nachweisen – trotz zweier Jahrhunderthochwasser im Abstand von elf Jahren.
  • Mithilfe der statistischen Methoden der Max-Planck-Forscher lassen sich sehr heftige Windböen kurzfristig vorhersagen, sodass die Rotorblätter von Windrädern rechtzeitig in eine sichere Stellung gebracht werden können.

->Quellen und mehr: