WBGU: Unsere gemeinsame digitale Zukunft

Zusammenfassung
Digitalisierung muss als Hebel für Große Transformation zur Nachhaltigkeit dienen

„Die“ Digitalisierung wird oft als gewaltiger Umbruch bezeichnet, der auf unsere Gesellschaften zukommt und dem es sich anzupassen gilt. Dieser Lesart setzt der WBGU entgegen, dass die Digitalisierung so gestaltet werden muss, dass sie als Hebel und Unterstützung für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit dienen und mit ihr synchronisiert werden kann. Digitalisierung wird vom WBGU umfassend als die Entwicklung und Anwendung digitaler sowie digitalisierter Techniken verstanden, die sich mit allen anderen Techniken und Methoden verzahnt und diese erweitert. Sie wirkt in allen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Systemen tiefgreifend und entfaltet eine immer größere transformative Wucht, die den Menschen, die Gesellschaften und den Planeten zunehmend fundamental beeinflusst und daher gestaltet werden muss. So wie der Brundtland-Bericht mit dem Titel „Unsere gemeinsame Zukunft“ 1987 das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung entworfen hat, skizziert der WBGU in diesem Gutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ das Konzept der digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft.

Dieses Gutachten stellt die bisher größte Herausforderung dar, der sich der WBGU seit seiner Gründung im Rio-Jahr 1992 gestellt hat: in intellektueller, in politischer und in ethischer Hinsicht. Denn der WBGU dehnt den Analyseraum über seinen Kernkompetenzbereich hinaus aus, weil das künftige Schicksal der planetarischen Umwelt massiv vom Fortgang der digitalen Revolution abhängen wird. Er mischt sich in einen gesellschaftlichen Diskurs ein, der immer hektischer geführt wird, weil es um die globale Innovationsführerschaft im 21. Jahrhundert geht. Und er versucht, Antworten auf Kernfragen zu finden – Fragen nach der mittelfristigen Zukunft, ja sogar nach dem schieren Fortbestand des Anthropos auf der Erde. Nur wenn es gelingt, die digitalen Umbrüche in Richtung Nachhaltigkeit auszurichten, kann die Nachhaltigkeitstransformation gelingen.

Digitalisierung droht ansonsten als Brandbeschleuniger von Wachstumsmustern zu wirken, die die planetarischen Leitplanken durchbrechen. Nachhaltigkeitspioniere müssen die Chancen von Digitalisierung nutzen und zugleich deren Risiken einhegen. Ignorieren oder vernachlässigen diejenigen, die versuchen, Nachhaltigkeitstransformationen voranzubringen, die Digitalisierungsdynamiken, wird die Große Transformation zur Nachhaltigkeit auf der Strecke bleiben. Der WBGU plädiert also für die Fortsetzung und Beschleunigung der Großen Transformation mit digitalen Mitteln. Zudem wird deutlich, dass Digitalisierung unsere Gesellschaften so tiefgreifend verändern wird, dass auch unser Nachhaltigkeitsverständnis radikal weiterentwickelt werden muss. Der WBGU zeigt Richtungen für die nächste Generation von Nachhaltigkeitsparadigmen auf und geht dabei weit über die Perspektiven der Agenda 2030 hinaus.

Einen solchen Epochenbruch in der Menschheitsgeschichte einzuordnen und zugleich handfeste Politikberatung zu betreiben, ist ambitioniert und spannungsgeladen. Doch selbst wenn man mit manchen Einschätzungen dieser grundlegenden Veränderungen daneben liegen sollte, kann dies nutzbringend sein, indem man ein wenig Licht auf die Wege vorauswirft, welche Kundigere nun rasch beschreiten sollten.

Dies ist gewissermaßen eine Warnung: Dieses Gutachten des WBGU versucht, eine Ganzheitsbetrachtung der Digitalisierung im Kontext der nachhaltigen Entwicklung unserer vielfach bedrohten Zivilisation zu leisten, die bisher kaum vorliegt. Dies ist ein enormer Anspruch, der – wenn überhaupt – nur mit Schwächen, Verallgemeinerungen und Auslassungen erfüllt werden kann. Entsprechend ist das Gutachten zu lesen.

Um aber eine wohlwollende und gewinnbringende Rezeption zu erleichtern, weicht auch der Aufbau dieses WBGU-Gutachtens vom Üblichen ab: Der eigentlichen Zusammenfassung ist diesmal ein erzählerischer Essay vorangestellt. Dieser versucht nicht nur den Gedankenbogen des Gutachtens vorzuzeichnen, sondern auch die immense thematische Landschaft anzudeuten, die neben lichten Ebenen und sich abzeichnenden neuen Möglichkeitsräumen für Nachhaltigkeitsreformen auch tiefe Abgründe umfasst. Das Narrativ handelt auf diesem Terrain von den digitalen Möglichkeiten und Gefährdungen der Bewahrung dessen, was die Evolution bis zum Eintritt der Erde ins Anthropozän hervorgebracht hat, und von der denkbaren Schöpfung neuer digitaler Wesenheiten bzw. der möglichen Substitution humaner durch maschinelle Intelligenz. Danach folgt eine Zusammenfassung der Kernbotschaften des Gutachtens, der einzelnen Kapitel sowie der Handlungs- und Forschungsempfehlungen.

Bewahrung und Schöpfung im Digitalen Zeitalter

Albert Einstein revolutionierte im frühen 20. Jahrhundert die Physik – das ist allgemein bekannt. Er besaß zudem die seltene Gabe, komplexe Sachverhalte innerhalb und außerhalb der Wissenschaft mit einem einzigen Satz auszudrücken. Ihm wird nicht zuletzt die folgende berühmte Feststellung zugeschrieben:

Probleme können nicht mit derselben Denkweise gelöst werden, die sie hervorgebracht hat!

Natürlich handelt es sich hier um eine aphoristische Vereinfachung kritischer Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nichtsdestotrotz stellt sie einen idealen Ausgangspunkt dar für ein Zusammendenken der beiden wohl wichtigsten Entwicklungen der jüngeren Moderne, nämlich der wachsenden Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit einerseits und der explosiven Fortschritte im Bereich der Informationstechnologien andererseits.

Erstere Entwicklung liefert gewissermaßen die raison d’être des WBGU seit seiner Gründung durch die Bundesregierung im Jahr 1992. Im Zentrum der Analyse der zivilisatorischen Schädigung der natürlichen Lebensgrundlagen und der daraus resultierenden Selbstbedrohung der Menschheit steht die Klimakrise, die sich unablässig verschärft und deren allumfassende Dimension die Forschung gerade in den letzten Jahren aufgedeckt hat. Auch die rapide Verschmutzung und Versauerung der Meere, der fortschreitende Verlust biologischer Vielfalt und die Degradation fruchtbarer Böden werden wissenschaftlich immer detaillierter dokumentiert und zunehmend in Zusammenhängen verstanden.

Der Sonderbericht des Weltklimarates (IPCC) zur Sinnhaftigkeit und Machbarkeit der Begrenzung der anthropogenen Erderwärmung auf 1,5 °C (IPCC, 2018) argumentiert überzeugend, dass durch diese Begrenzung schwerer Schaden von Natur und Kultur in zahlreichen Weltgegenden abgewendet werden könnte. Zugleich bestätigt er aber auch, dass dieser Erfolg – wenn überhaupt – nur mit einer raschen und tiefgreifenden Transformation der immer noch von fossilen Energieträgern dominierten Wirtschaftsweise erzielt werden kann. Eine kürzlich erschienene Metastudie einer internationalen Forschergruppe (Steffen et al., 2018) weist sogar darauf hin, dass das Klimasystem möglicherweise nicht stabil in der Nähe der 2 °C-Leitplanke „geparkt“ werden kann. Aufgrund selbstverstärkender Prozesse (wie der Freisetzung von Treibhausgasen aus tauenden Permafrostböden in Sibirien und Alaska) könnte es zum unkontrollierbaren Weggleiten des Systems in eine „Heißzeit“ kommen. Was gleichbedeutend mit einer Rückverschiebung der globalen Umwelt um ca. 15 Mio. Jahre in geologischer Zeit mit einer Erdtemperaturerhöhung um 5–6 °C und einem Meeresspiegelanstieg um bis zu 60 m wäre. Kipp-Prozesse ähnlicher Art könnten durch anthropogene Störungen vermutlich auch in der Biosphäre und der Pedosphäre ausgelöst werden.

Diese und andere jüngere Veröffentlichungen machen deutlich, dass die Umsetzung des Pariser Klimaübereinkommens, der Aichi-Ziele für Biodiversität und die Regeneration von Böden Mindestmaßnahmen zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit darstellen.

Dabei ist die akute Umweltkrise nur eine der vielen Nachhaltigkeitsherausforderungen, welche die industrielle Moderne hervorgebracht hat. Strategien zu ihrer Bewältigung sind untrennbar mit Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Kohäsion verbunden. Ein einigermaßen angemessener Zielkatalog für diesen Komplex an Herausforderungen wird von den Nachhaltigkeitszielen („Sustainable Development Goals“, SDGs) der Vereinten Nationen abgebildet. Sie berücksichtigen neben kritischen Umwelt- und Ressourcenaspekten auch zahlreiche sozioökonomische Dimensionen, den zukunftsfähigen Umbau unserer Industrien und Städte, die Armutsbekämpfung, den Abbau von Ungleichheiten und Konflikten und nicht zuletzt die Chancengleichheit aller Menschen auf ein gelungenes, gutes Leben – unabhängig von Geschlecht, Alter, körperlicher Verfasstheit oder Herkunft (UN, 2018).

Der WBGU hat in diesem Zusammenhang ein deutlich einfacheres Orientierungssystem („normativer Kompass“) entwickelt (WBGU, 2016a, b), das bisher die Begriffe „Teilhabe“, „Eigenart“ und „Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ umfasst und in diesem Gutachten explizit durch die unabdingbare Kategorie „Würde“ ergänzt wird (Abb. 1). Leider ist festzustellen, dass die Weltgesellschaft gegenwärtig, trotz der Fortschritte bei einigen Unterzielen, im großen Ganzen den richtigen Kurs verfehlt, ganz gleich, welches Navigationssystem man zu Rate zieht.

Folgt: „Digitalisierung“ zivilisatorische Revolution