WBGU: Unsere gemeinsame digitale Zukunft

„Digitalisierung“  zivilisatorische Revolution

Die zweite oben angesprochene Entwicklung wird mit dem eher schwammigen Begriff „Digitalisierung“ benannt, obgleich sie nichts weniger als eine zivilisatorische Revolution darstellt. Dass mit der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung in den 1950er-Jahren ein neues Zeitalter begann, ist mittlerweile geläufig, aber was in diesem Zeitalter wann und wie noch geschehen wird, ist Gegenstand teilweise naiver Fortschrittsfantasien, erbitterter Kontroversen und zunehmend angstbeladener Szenarien. Kontroversen entzünden sich besonders an der massenhaften Sammlung privater Daten, der Manipulation kommunikativer Räume und der Diskriminierung durch algorithmisch Zusammenfassung gesteuerte Systeme. Denn aus dem imaginierten freien, gleichen, weltweiten Netz ist in der Realität eine von ökonomischen und geopolitischen Interessen getriebene und software-bestimmte Cybersphäre geworden. Gängige Dystopien haben insbesondere mit der technischen Erschaffung unterschiedlicher Formen der „Künstlichen Intelligenz“ (KI) zu tun, wobei sich allerdings bereits über die Begrifflichkeit trefflich streiten lässt. Tatsache ist jedoch, dass bei strategischen Spielen wie Schach oder Go selbstlernende maschinelle Systeme vom Typ Neuronale Netze inzwischen die weltbesten menschlichen Gegner mühelos aus dem Feld schlagen. Und das ist nur die Spitze des digitalen Eisberges, wie dieses Gutachten erläutern wird.

Normativer Kompass für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit – Grafik @ WBGU

Abbildung 1
Normativer Kompass für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit in einer digitalisieren Gesellschaft. Die Transformation kann durch ein Zusammenwirken und eine Balance von folgenden drei Dimensionen erreicht werden:

  • „Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ (N): Planetarische Leitplanken einhalten sowie lokale Umweltprobleme vermeiden bzw. lösen.
  • „Teilhabe“ (T): Universelle Mindeststandards für substanzielle, politische und ökonomische Teilhabe gewährleisten.
  • „Eigenart“ (E): Wert von Vielfalt als Ressource für gelingende Transformation sowie Bedingung für Wohlbefinden und Lebensqualität anerkennen.
    Die Menschenwürde war bislang implizit der normative Ausgangspunkt des WBGU. Ohne die drei Kompassdimensionen ist sie nicht zu realisieren, aber im Digitalen Zeitalter wird sie durch zahlreiche Herausforderungen zunehmend brisanter. Deshalb benennt der WBGU die Unantastbarkeit, die Achtung sowie den Schutz der Würde explizit als Orientierungshilfe im Sinne der Transformation zur Nachhaltigkeit. Quelle © WBGU; Grafik: Wernerwerke, Berlin

Zunächst erscheint es uns jedoch wichtig, diese atemberaubende Dynamik in den größeren planetarischen Zusammenhang zu stellen. Die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist von zwei Steilstufen geprägt, die in den Jahrtausenden nach dem Ende der letzten Eiszeit (also ab 11.000 vor heute) bzw. in den eineinhalb Jahrhunderten vor dem Ersten Weltkrieg (also ab 1760 u. Z.) erklommen wurden. Im ersten Falle, während der sogenannten Neolithischen Revolution, konnten die metabolisch-physiologischen Möglichkeiten des Homo sapiens durch Pflanzenmanagement und Tierhaltung sprunghaft ausgeweitet werden. Im zweiten Falle, während der Industriellen Revolution, konnten die manuellen Fähigkeiten des Menschen durch Mechanisierung und fossile Brennstoffe verhundertfacht werden. Mit der sich nun vollziehenden digitalen Revolution werden schließlich bestimmte kognitive Leistungen unserer Spezies, die als einzige von vielen Millionen Arten der Erde über technische Intelligenz verfügt, ersetzt bzw. weit übertroffen.

Ist damit die Bühne bereitet für einen Schöpfungsakt ohne erdgeschichtliche oder religiöse Vorlage? Könnte dieser Akt „übernatürliche“ physiologische, manuelle und kognitive Fähigkeiten neu zusammenbringen und damit das Humane selbst transzendieren? Damit wäre möglicherweise eine ganz neue Epoche der Evolution auf unserem Planeten in Gang gebracht. So verstiegen sich diese Vorstellung für viele auch anhören mag, so ernsthaft wird sie in bestimmten Kreisen bereits diskutiert. Der WBGU setzt sich mit ihr in diesem Gutachten in den Kapiteln 6 und 7 auseinander, wobei erstmals die Bedeutung dieser Utopie bzw. Dystopie für die großen Fragen der Nachhaltigkeit explizit erörtert wird.

Zuvor gilt es jedoch sorgfältig auszuloten, welche Perspektiven die digitale Revolution für die zeitgerechte Bewältigung der akuten globalen Umweltkrise eröffnet, die unserer Zivilisation und damit auch allen „Human-Enhancement“-Spekulationen ein baldiges Ende bereiten könnte. Denn im Sinne des Eingangszitats von Einstein kann man sagen, dass mit Kybernetik und Informationstechnologie eine neue Denkweise in die Welt gekommen ist, systemisch und vernetzt. Sie könnte helfen, die Probleme zu lösen, welche die „alte“, industrielle Denkweise hervorgebracht hat – neben all den großartigen Errungenschaften der Moderne. Dieses alte Denken ist inzwischen praktisch zum Dogma geronnen und beharrt auf Spezialisierung, Separation und Linearisierung. Eine ganzheitliche Herangehensweise ist jedoch erforderlich, um „den Wald vor lauter Bäumen zu sehen“, Nebenwirkungen zu erkennen und Kreisläufe zu schließen. Dafür kann gerade das Paradigma, das den fortschrittlichen digitalen Konzepten und Applikationen zugrunde liegt, die notwendigen Voraussetzungen schaffen, zumal es in enger Wechselwirkung mit den Komplexitätswissenschaften entstanden ist.

Wenn wir Einsteins Feststellung jetzt aber um einen logischen Schritt ergänzen, dann sollte die „neue“ Denkweise nicht nur eine bessere Welterklärung liefern, sondern auch bei der Lösung der realen Probleme helfen, die das an seine Grenzen stoßende, konventionelle Modell aufgetürmt hat. In der heute vorherrschenden Digitalisierungseuphorie, die selbst die periphersten Winkel des Planeten erfasst, wird gerade dem Methodenarsenal der KI jede denkbare – und undenkbare – Wunderleistung zugetraut. In der Tat handelt es sich dabei möglicherweise um die mächtigsten Werkzeuge, die jemals von unserer Zivilisation angefertigt wurden.

Was läge deshalb näher, als diese Werkzeuge schleunigst und im großen Stil auf die drängendsten Herausforderungen anzuwenden, mit denen diese Zivilisation jemals konfrontiert war? Also insbesondere auf die menschengemachte Erderwärmung, die den Rahmen für alle anderen aktuellen Umweltkrisen aufspannt? Sollte uns nicht dort die Maschinenintelligenz weiterhelfen, wo der Menschenverstand offensichtlich versagt? Der WBGU ist in seinem Gutachten diesen Fragen nachgegangen und zu einer doppelten Schlussfolgerung gekommen: Auf der einen Seite muss nüchtern festgestellt werden, dass die Digitalisierung von Wirtschaft und Alltag sich bislang nur marginal an Nachhaltigkeitsaspekten orientiert. Es mangelt zwar nicht an rhetorischen Bezügen, insbesondere durch die Anwendung des Begriffs „smart“ auf jedes klimafreundlich zu transformierende Teilsystem der Industriegesellschaft: Smart Grids, Smart Cities, Climate-Smart Agriculture usw. Die digitalen Ressourcen und Projekte werden jedoch bisher überwiegend für konventionelles Wachstum auf etablierten Märkten im internationalen Wettbewerb eingesetzt. Sinn und Zweck des digitalen Fortschritts in diesen Zusammenhängen ist nicht in erster Linie die Nachhaltigkeit; Aspekte wie Unterhaltung, Bequemlichkeit, Sicherheit und nicht zuletzt kurzfristige finanzielle Gewinne dominieren. Im Großen wirken Digitalisierungsprozesse heute eher als Brandbeschleuniger bestehender nicht nachhaltiger Trends, also der Übernutzung natürlicher Ressourcen und wachsender sozialer Ungleichheit in vielen Ländern.

Folgt: Digitalisierung offeriert ungeheures Spektrum an Möglichkeiten zur Unterstützung der Großen Transformation zur Nachhaltigkeit