Die Gestaltungsaufgaben: Große Transformation zur Nachhaltigkeit im Schatten digitaler Umbrüche
Mit den Arbeiten zur Großen Transformation zur Nachhaltigkeit geht es dem WBGU darum, Entwicklungspfade zu nachhaltigen Gesellschaften zur Diskussion zu stellen, die innerhalb der planetarischen Leitplanken verlaufen und allen Menschen, auch zukünftigen Generationen, ein menschenwürdiges, gutes Leben und eine langfristige Zukunft bieten sollen (WBGU, 2011). Diese Transformation umfasst tiefgreifende Veränderungen der Infrastrukturen, Produktionsprozesse, Investitionen, Regulierungssysteme und Lebensstile sowie ein neues Zusammenspiel von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Individuen. Mit der Verabschiedung der Agenda 2030 mit den 17 SDGs (2015), dem Pariser Klimaübereinkommen (2015) sowie den Aichi-Zielen für Biodiversität (2010) existieren mittlerweile internationale Vereinbarungen, die Transformationen in Richtung Nachhaltigkeit einfordern. Die Umsteuerung zur Nachhaltigkeit verläuft dennoch deutlich langsamer als notwendig. Unsere Ökonomien und Gesellschaften befinden sich noch immer auf Kollisionskurs mit dem Erdsystem. Zudem unterminieren soziale Fliehkräfte den Zusammenhalt und die Stabilität vieler Gesellschaften. Wie der digitale Wandel die Nachhaltigkeitstransformationen erleichtert, erschwert oder auch zu ganz neuen Anforderungen an nachhaltige Gesellschaften sowie zu veränderten Nachhaltigkeitsverständnissen führt, ist bisher nur unzureichend erforscht. Insofern benennt der WBGU im Gutachten nicht nur massive Handlungsdefizite, sondern ebenso eklatante Forschungslücken und stellt Kernbotschaften heraus.
Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsforschung verbinden (S. 25)
Digitalisierung für Umsetzung der Agenda 2030 nutzen Die Analysen des WBGU zeigen, dass Digitalisierungsdynamiken massive Auswirkungen auf alle 17 SDGs der Agenda 2030 haben. Die Debatte um die Umsetzung der SDGs kann nicht mehr ohne ein entsprechendes Verständnis der Potenziale und Risiken der Digitalisierung für die gesamte Agenda 2030 geführt werden.
Eine doppelte Kurskorrektur ist notwendig
Die erste Kurskorrektur erfordert eine tiefgreifende Veränderung der Diskussion zur Großen Transformation zur Nachhaltigkeit, da diese bisher die fundamentalen Dynamiken der Digitalisierung, der Chancen und Risiken etwa von algorithmenbasierten Entscheidungsprozessen, oder der Verschränkung unserer physischen Welt mit virtuellen Räumen kaum berücksichtigt. Sie finden sich weder in der 2015 im Rahmen der UN verabschiedeten Agenda 2030, noch in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie von 2017 und ebenso nicht im 2011 erschienenen WBGU-Gutachten zur Großen Transformation.
Natürliche Lebensgrundlagen erhalten (S. 19)
Die zweite Kurskorrektur muss bei den ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Digitalpionier* innen und auf Seiten der Digitalisierungsforschung stattfinden, denn Digitalisierung wird hier bisher kaum mit den großen Nachhaltigkeitsherausforderungen des Anthropozäns verknüpft. Die Digitalisierung sollte nachhaltig gestaltet und als mächtiges Instrumentarium zur Erreichung der Nachhaltigkeits Zusammenfassung 9 ziele genutzt werden! Die Akteure der Nachhaltigkeit und der Digitalisierung benötigen einen kraftvollen, gemeinsamen Anlauf, um eine Trendwende zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft einzuleiten.
Es muss schnell gehandelt werden – Digitalisierung, planetarische Leitplanken und soziale Kohäsion verbinden
Das Gutachten zeigt, dass Digitalisierung dazu beitragen kann, planetarische Leitplanken einzuhalten. Dekarbonisierung, Kreislaufwirtschaft, umweltschonendere Landwirtschaft, Ressourceneffizienz und Emissionsreduktionen, Monitoring und Schutz von Ökosystemen könnten durch digitale Innovationen leichter und schneller erreicht werden als ohne sie. Die rasche und umfassende Mobilisierung dieser Möglichkeiten einer digital getriebenen Nachhaltigkeitstransformation ist daher ein Imperativ. Digitalisierung kann zudem gesellschaftliche Modernisierungspotenziale erschließen. Weltumspannendes Wissen, weltumspannende Kommunikation, weltgesellschaftliche Vernetzung in virtuellen und hybriden Räumen können Nachhaltigkeitstransformationen beschleunigen, menschliche Teilhabe verbessern, Weltumweltbewusstsein stärken und eine transnational vernetzte Gesellschaft hervorbringen, in der sich globale Kooperationskulturen entwickeln.
Der WBGU zeigt jedoch auch, dass es per se keine Technologiedeterminierung für die großen Herausforderungen der Menschheit gibt. Die Digitalisierung der vergangenen Dekaden – das Internet, die vielfältigen Endgeräte, die zunehmende Produktionsautomatisierung und Produktvernetzung – ist einhergegangen mit immer weiter steigenden Energie- und Ressourcenverbräuchen sowie globalen Produktions- und Konsummustern, die die Ökosysteme noch massiver belasten. Die technischen Innovationsschübe übersetzen sich nicht automatisch in Nachhaltigkeitstransformationen, sondern müssen eng mit Nachhaltigkeitsleitbildern und -politiken gekoppelt werden. Armutsbekämpfung und inklusive Entwicklung vorantreiben (S. 19) Ebenso sind die gesellschaftlichen Innovationspotenziale der digitalen Transformation keine Selbstläufer. Derzeit scheinen unsere Gesellschaften eher durch die Geschwindigkeit und Tiefe technologischer Umbrüche und deren Nutzung durch mächtige, insbesondere private, aber auch staatliche Akteure überfordert zu sein. Fake News; Social Credit Scores; Erosion zivilisatorischer Standards im Internet; Vertrauensverlust in datengetriebene Angebote; Probleme von Regierungen, Unternehmen, die in digitalen Räumen agieren, angemessen zu besteuern; Politik, die durch die Anforderungen beschleunigter Digitalisierung überfordert scheint – all dies sind nur einige pathologische Effekte ungehemmter Entwicklungen.
Digitalisierung zur Unterstützung von Nachhaltigkeitstransformationen – eine enorme (inter-)nationale Gestaltungsaufgabe
Bisher sind die Digitalkompetenzen in Ministerien, Parlamenten, Stadtverwaltungen, Nichtregierungsorganisationen, Nachhaltigkeitsforschungsinstituten, Medien und internationalen Organisationen stark unterentwickelt. Um Gestaltungsfähigkeiten überhaupt herzustellen, bedarf es eines Modernisierungsschubes in all den genannten Bereichen, um digitale Kompetenzen zu schaffen und diese mit den Anforderungen der Nachhaltigkeitstransformation zu verbinden. Gelingt dies nicht, werden sich technologie- und kurzfristorientierte Eigendynamiken durchsetzen; die Verknüpfung der digitalen mit der Nachhaltigkeitstransformation wird dann nicht gelingen. Es sind umfassende Modernisierungsanstrengungen für öffentliche Institutionen nötig, wie sie beispielsweise Anfang der 1970er-Jahre durchgeführt wurden, unterstützt durch umfassende wissenschaftliche Begleitforschungsprogramme (Scharpf, 1972; Mayntz et al., 1978). Damals ging es darum, öffentliche Institutionen darauf vorzubereiten wirtschaftliche, technologische, soziale sowie umweltpolitische Entwicklungen zu verzahnen und gesellschaftliche Teilhabe auszubauen; heute geht es darum, umfassende Digitalisierungskompetenzen zu schaffen und diese mit den Nachhaltigkeitstransformationen zu verbinden.
Das Digitale Zeitalter als neue Gesellschaftsformation entsteht – Große Transformation zur Nachhaltigkeit über 2030 hinausdenken
Der WBGU identifiziert fünf Kerncharakteristika des Digitalen Zeitalters, die es ermöglichen, Entwicklungstrends und Richtung des Wandels zu verstehen. Deutlich wird, dass es nicht ausreicht, digitale Instrumente zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele einzusetzen. Die digitalen Umbrüche verändern das Spielfeld gesellschaftlicher Entwicklung grundlegend. Die Große Transformation zur Nachhaltigkeit kann nur noch unter diesen sich wandelnden Bedingungen des Digitalen Zeitalters, die von den Architekten der Agenda 2030 kaum berücksichtigt wurden, stattfinden.
- Vernetzung: Technische Systeme sowie Personen, Dinge, Prozesse und Organisationen werden auf Zusammenfassung 10 unterschiedlichen Handlungsebenen immer omnipräsenter miteinander vernetzt. Diese Entwicklung kann Austauschbeziehungen, Kooperations- und Lernmöglichkeiten multiplizieren und schafft qualitativ neuartige, auch grenzüberschreitende ökonomische, soziale, kulturelle, institutionelle und politische Vernetzungsstrukturen. Die Vernetzung kann die Anfälligkeit interdependenter Infrastrukturen und Prozesse erhöhen.
- Kognition: Universelle Intelligenz ist das Alleinstellungsmerkmal des Menschen in der uns bekannten Welt. Mit dem Internet der Dinge (IoT) sowie Methoden von Big Data und KI werden zunehmend technische Systeme geschaffen, die rechnergestützt wahrnehmen, lernen, analysieren, bewerten und so beispielsweise Kunst und Texte schaffen oder Sprache und Gesichter erkennen und imitieren können. Im Silicon Valley wird u. a. vermutet, dass KI-Systeme in 5–15 Jahren eigenständige Leistungen erbringen können, die Nobelpreise rechtfertigen würden. Solche Systeme könnten vieles verändern – und zwar grundlegend: unser Menschenbild, die Wirtschaft, Arbeitsmärkte, Lernprozesse, unser Wissen, unseren Umgang mit Technik, Gesellschaft und Natur.
- Autonomie: Autonome, datenbasiert selbstständig Entscheidungen treffende, technische Systeme werden bereits in der Industrie eingesetzt, um Produktionsabläufe zu steuern, in öffentlichen Umgebungen, um die öffentliche Sicherheit zu erhöhen, oder (bereits in vielen Kontexten) um menschliches Verhalten zu prognostizieren und zu überwachen. Solche autonomen technischen Systeme werden zukünftig vielfältig einsetzbar sein: im Verkehr (autonomes Fahren), im Bankensystem, im Sozialwesen, in der Justiz, in politischen Aushandlungsprozessen. Sie können Muster erfassen, die Menschen aufgrund der großen Datenmengen oder Komplexität verborgen bleiben. Sie können dazu beitragen, fundiertere ökonomische, politische und soziale Entscheidungen zu treffen, aber auch gesellschaftlichen Kontrollverlust, Machtmissbrauch oder die Unterminierung von Privatheit und Freiheit zur Folge haben.
- Virtualität: Mit der virtuellen Welt entstehen neue Räume für menschliche Gesellschaften: Menschen können sich in virtuellen Räumen unabhängig von ihrem physischen Standort treffen und auf entfernte Objekte zugreifen und sie verändern. Avatare und Social Bots können zu Begleitern der Menschen werden. So können das Erdsystem, Ökosysteme und weit entfernte Kulturen unmittelbar erfahrbar gemacht werden. Die Gestaltung dieser virtuellen als auch hybriden Räume ist zugleich eine große Herausforderung. Dies verdeutlicht schon das dystopische Beispiel des Versinkens von Menschen in virtuelle (Spiel-)Welten, die Naturbezug nur noch suggerieren, während die reale Natur zunehmend degeneriert.
- Wissensexplosion: Digitale Methoden modernisieren jede Art der quantitativen und qualitativen Forschung. Bereits jetzt findet sich fast für jede tradierte Wissenschaftsdisziplin eine digitale Ausprägung, die mit eSciences, Digital Humanities usw. bezeichnet wird. Datenerfassung und -verarbeitung sowie Modellbildung, Simulation und Visualisierung bieten neue Zugänge für das Verständnis und die Gestaltung unserer natürlichen und gesellschaftlichen Realitäten. Zudem bieten digitale Methoden neuartige Zugänge zu Wissen, Bildung und einen weltumspannenden Austausch.
Diese fünf Charakteristika werden nicht nur unsere Ökonomien und technischen Infrastrukturen verändern, sondern auch den Homo sapiens selbst. Das Anthropozän – das Zeitalter des Menschen – bisher ein Begriff, der unterstreicht, dass die Menschen zur größten Veränderungskraft im Erdsystem geworden sind, bekommt eine erweiterte Bedeutung: im digitalen Anthropozän schafft sich der Mensch Werkzeuge, mit denen er nun auch sich selbst fundamental transformieren kann und zwar durch eine immer engere Mensch-Maschine-Kooperation mit digitalisierter Technik und das immer engere Zusammenspiel mit KI bis hin zu technologischen Dystopien von „Human Enhancement“ als einer technologisch gestützten Optimierung des Menschen.
Zugleich werden Entwicklungen denkbar und möglich, die gerade aus der Sicht von Nachhaltigkeitstransformationen von großer Bedeutung sind: global vernetzte Zivilgesellschaften, das Entstehen eines Welt(umwelt)bewusstseins, durch Digitalisierung unterstützte Kreislaufwirtschaft, der universelle Zugang zum explodierenden Wissen oder neue Chancen für Entwicklungs- und Schwellenländer, rasch auf neue digitalisierte Infrastrukturen zu setzen. Die Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften werden sich durch Digitalisierung im 21. Jahrhundert also ähnlich grundlegend verändern wie die Treiber der Industriellen Revolution zur fundamentalen Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert führten. Adam Smith, der – was oft vergessen wird – nicht nur Ökonom, sondern auch Moralphilosoph war, argumentierte in seinem „Wohlstand der Nationen“ (1776), dass Märkte und radikale Veränderungen nur funktionieren könnten, ohne Gesellschaften zu destabilisieren, wenn die Autonomie der Marktdynamiken durch die Normen und Werte der Gesellschaften gezügelt würden. Dies gilt erst recht für die digitalen Umbrüche. Ohne eine Einbettung des digitalen Wandels in starke Normen- und Wertesysteme werden sich die dystopischen Potenziale der digitalen Gesellschaft durchsetzen.
Folgt: Für Nachhaltigkeit der Digitalisierung Rahmenbedingungen und Grenzen setzen