„Ich glaube jetzt, sie gehört verboten“

Ehemaliger US-Atom-Chef-Aufseher schwört ab

Am 17.05.2019 beschrieb der ehemalige Vorsitzende der US-Atomaufsichtsbehörde (Nuclear Regulatory Commission) Gregory Jaczko unter dem Titel „I oversaw the U.S. nuclear power industry. Now I think it should be banned“ (Ich habe die US-Kernkraftindustrie beaufsichtigt. Ich glaube jetzt, dass sie verboten gehört.) in einem Artikel in der Washington Post seinen Überzeugungswandel in Sachen Atomkraft. Sein Fazit: Der Klimawandel sei nicht länger gefährlicher als Atomunfälle.

Washington Kapitol – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

1999 fing Gregory Jaczko als Assistent des demokratischen Gesetzgebers am Capitol Hill an, über Atomkraft zu arbeiten, damals schienen die Risiken der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung die Gefahren der Kernenergie noch zu überwiegen – die hatte immerhin seit Tschernobyl, 13 Jahre zuvor, keinen Unfall mehr erlitten. „2005 hatte ich begonnen, meine Ansichten zu ändern.“

Fast vier Jahre lang hatte er bis dahin „an der Atompolitik gearbeitet und den Einfluss der Industrie auf den politischen Prozess beobachtet. Jetzt war ich Mitglied der Atomaufsichtsbehörde, und ich sah, dass die Atomkraft schwieriger war, als ich dachte; es war ein mächtiges Geschäft und eine beeindruckende Leistung der Wissenschaft. Im Jahr 2009 ernannte mich Präsident Barack Obama zum Vorsitzenden.“

Zwei Jahre danach zerstörte ein GAU die vier Atomreaktoren von Fukushima und Jaczko versicherte Monate lang der amerikanischen Öffentlichkeit, dass die Kernenergie und vor allem die US-amerikanische Atomindustrie sicher seien Aber langsam begann er selbst an seinen eigenen Behauptungen zu zweifeln. Und das, obwohl die Atomkraft bis dahin viele fossile Kraftwerke davon abgehalten hatten, Luftschadstoffe und Treibhausgase in die Luft zu blasen. Nach Fukushima aber änderten die sinkenden Kosten für Erneuerbaren Strom die Rechnung. Jaczko: „Obwohl ich seit mehr als einem Jahrzehnt in der Industrie tätig bin, glaube ich heute, dass die Vorteile der Kernenergie nicht mehr ausreichen, um das Wohlergehen der Menschen in der Nähe dieser Anlagen zu gefährden. Ich war so überzeugt, dass ich Jahre nach meinem Ausscheiden aus dem Amt die Entwicklung alternativer Energien zu meiner neuen Karriere gemacht habe und die Kernkraft hinter mir gelassen habe. Die aktuellen und potenziellen Kosten – in Leben und Dollar – sind einfach zu hoch.“

Kernkraftwerke emittieren zwar keine der Luftschadstoffe, die bei der Verbrennung von fossilen Kraftstoffen entstehen und seit ihrer Gründung in den 50er Jahren hat die Kernenergie den Bau von Hunderten fossiler Kraftwerke verhindert. Das bedeutet, dass weniger Menschen an Krankheiten gelitten haben oder gestorben sind, die durch ihre Emissionen verursacht wurden. Aber – so Jaczko – „Kernspaltungsreaktoren haben eine dunkle Seite: Wenn die von ihnen produzierte Energie nicht genau kontrolliert wird, kann sie auf katastrophale Weise versagen, die Menschen töten und große Teile des Landes unbewohnbar machen. Die Kernenergie ist auch der Weg zu Atomwaffen, die selbst eine existenzielle Bedrohung darstellen.“

Seit der drohende Klimawandel aber immer deutlicher wird, stellt die Atomkraft Umweltschützer vor ein Dilemma: Ist das Risiko von Unfällen oder der weiteren Verbreitung von Kernwaffen größer als die drohende Gefahr der Klimakatastrophe? In den späten 2000er Jahren gewannen die Argumente für die Kernenergie bei Kongress, Wissenschaft und sogar einigen Umweltschützern an Bedeutung, da die Erinnerung an den Tschernobyl-GAU verblasste und die bereits wahrnehmbaren Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels immer weniger bestritten werden konnten. Seit Jahrzehnten waren zwar keine neuen Anlagen mehr geplant worden, aber jetzt begannen die EVU, bis zu 30 neue Reaktoren zu bauen.

Aber die Katastrophe von Fukushima Daiichi hat diese Dynamik umgekehrt. Die massive Freisetzung von Strahlung dauerte Monate. Die Welt konnte im Fernsehen beobachten, wie Wasserstoffexplosionen riesige Betonbrocken in die Luft schleuderten – sichtbares Zeichen dafür, dass unsichtbare Strahlung aus dem Reaktorkern strömte. Mehr als 100.000 Menschen wurden evakuiert. Die meisten sind nicht zurückgekehrt, weil nur ausgewählte Gebiete saniert wurden. Die Regierung schätzte, dass der Unfall 180 Milliarden Dollar kosten würde. Unabhängige Schätzungen sagen, dass die Kosten dreimal so hoch sein könnten.

Sofort kam die Frage auf: Könnte das, was in Japan geschah, auch anderswo passieren? Der Unfall beanspruchte Jaczkos Arbeit im NRC ein halbes Jahr lang: „Ich habe der Öffentlichkeit die Sicherheit der US-Atommeiler versichert, weil ich zu diesem Zeitpunkt nicht genügend Informationen oder eine Rechtsgrundlage hatte, um etwas anderes zu sagen. Aber ich habe auch versprochen, die von uns getroffenen Sicherheitsmaßnahmen gründlich zu überprüfen und alle notwendigen Reformen, die die Agentur ermittelt hat, rasch umzusetzen.“ Die Atomaufseher produzierten zwar bald Anlagenverbesserungen, Programme zur Bekämpfung von Bränden, Erdbeben und Überschwemmungen, um die Wahrscheinlichkeit eines ähnlichen Unfalls zu verringern.

Doch weil die geplanten neuen US-Atomkraftwerke nach Fukushima nie ans Netz gehen würden, fürchteten die Atomfirmen, die Anerkennung der Notwendigkeit von Reformen würde die Sicherheit von Reaktoren noch mehr in Frage stellen. Daher wollten sie, dass das erste Projekt unverzüglich genehmigt und die Umsetzung der Sicherheitsreformen verhindert würden. Und so übte die Atomlobby unverzüglich Druck auf die Behörde und Verbündete im Kongress aus, um viele der Empfehlungen abzulehnen, zu verwässern oder zu verschieben. Folglich wurden sehr sparsam bescheidene Sicherheitsreformen durchgeführt, und dann die ersten vier neuen Reaktorneubauten seit Jahrzehnten in Georgia und South Carolina genehmigt. Aber nach Fukushima forderten weltweit Menschen auf der ganzen Welt einen anderen Ansatz für nukleare Sicherheit. Deutschland kündigte den Atomausstieg bis 2022 an.

In den USA gingen die neuen Reaktoren bis heute nicht ans Netz – im Gegenteil: „Die Unternehmen, die zwei der Reaktoren bauen, haben das Projekt 2017 abgesagt, nachdem sie 9 Milliarden Dollar des Geldes ihrer Kunden ausgegeben hatten, ohne ein einziges Elektron Energie zu produzieren.  Die Baufirma hinter den Versorgungsunternehmen, Westinghouse, ging in Konkurs und zerstörte fast ihre Muttergesellschaft, den Weltkonzern Toshiba. Die beiden anderen Reaktoren, die unter meinem Vorsitz im NRC lizenziert wurden, sind in Georgia noch im Bau und Jahre hinter dem Plan. Ihre Kosten sind von 14 Milliarden Dollar auf 28 Milliarden Dollar gestiegen und wachsen weiter.“

Für Jaczko zeigt die Geschichte, „dass sich die Kosten der Kernenergie nie ändern werden. Vergangene Bauarbeiten in den Vereinigten Staaten zeigten ähnliche Kostensteigerungen während des gesamten Planungs-, Ingenieur- und Bauprozesses. Die Technologie und die Sicherheitsanforderungen sind einfach zu komplex und anspruchsvoll, um sie in eine Anlage umzusetzen, die einfach zu planen und zu bauen ist. Unabhängig von Ihren Ansichten zur Kernenergie im Prinzip kann es sich niemand leisten, so viel für zwei Kraftwerke zu zahlen. Die neue Atomenergie ist in den Vereinigten Staaten einfach vom Tisch.“

Nachdem Jaczko 2012 das NRC verlassen hatte, argumentierte er, dass wir neue Wege bräuchten, um Unfälle ganz zu vermeiden. Bei einem Reaktorunfall sollte die Anlage keine schädliche Strahlung außerhalb der Anlage freisetzen. Er war noch kein Atomgegner, sondern trat nur für öffentliche Sicherheit ein. Aber die Atombefürworter wussten, dass die meisten heute in Betrieb befindlichen Anlagen nicht den „no off-site release“-Test erfüllen. Jahrelang wurden Jaczkos Sorgen um Kosten und Sicherheit der Kernenergie durch die wachsende Angst vor einer Klimakatastrophe gemildert. Aber Fukushima lieferte einen Test, wie wichtig die Kernenergie für den Klimaschutz war: Zunächst wurden alle japanische Kernreaktoren geschlossen, wodurch die Produktion fast des gesamten kohlenstofffreien Stroms eingestellt wurde. Natürlich stiegen die CO2-Emissionen und die Emissionsreduzierungsziele wurden gesenkt.

Aber: Weniger als 10 der 50 japanischen Reaktoren haben ihren Betrieb wieder aufgenommen, doch die Kohlendioxidemissionen des Landes sind unter das Niveau vor dem Unfall gesunken. Wie? Japan hat bei der Energieeffizienz und der Solarenergie deutliche Fortschritte gemacht. Es stellt sich heraus, dass die Atomenergie eine schlechte Strategie zur Bekämpfung des Klimawandels ist: Ein Unfall löschte die japanischen Kohlenstoffgewinne aus. Nur eine Hinwendung zu Erneuerbaren Energien und Umweltschutz brachte das Land wieder auf Kurs.

Und die USA? Kernenergie macht etwa 19 Prozent der US-Stromerzeugung aus und den größten Teil des kohlenstofffreien Stroms. Marktwirtschaftlich gesehen  könnten US-Reaktoren ohne Zunahme der CO2-Emissionen vom Netz gehen, denn Atomkraft ist teurer als jede andere Stromquelle. Erneuerbare Energien wie Solar-, Wind- und Wasserkraft erzeugen Strom für viel weniger als die im Bau befindlichen Kernkraftwerke.

2016 gründete Gregory Jaczko unter Beobachtung dieser Trends das Unternehmen Wind Future LLC, das sich dem Bau von Offshore-Windenergieanlagen widmet: „Meine Reise, von der Bewunderung der Atomkraft bis zur Angst vor ihr war abgeschlossen: Diese Technologie ist weder eine tragfähige Strategie zum Umgang mit dem Klimawandel noch eine wettbewerbsfähige Energiequelle. Es ist gefährlich, teuer und unzuverlässig, und ein Verzicht darauf würde nicht zu einem Klimaschutzverlust führen. Die wirkliche Wahl besteht jetzt darin, entweder den Planeten oder die sterbende Atomindustrie zu retten. Ich stimme für den Planeten.“

Gregory Jaczko war von 2005 bis 2009 Mitglied der amerikanischen Nuclear Regulatory Commission und von 2009 bis 2012 deren Vorsitzender. Als Autor von „Bekenntnisse eines schurkischen Nuklearregulators“ ist er Gründer von Wind Future LLC und unterrichtet an der Georgetown und der Princeton University.

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