Michael Müller im Solarify-Selbst-Gespräch: „Politisiert, aber nicht politisch“
Auch wenn die Zahlen es derzeit nicht unbedingt hergeben und die SPD erst einmal aus dem Tal der Tränen heraus muss, wirbt der SPD-Umweltexperte und Ex-Umweltstaatssekretär Michael Müller im Solarify-Selbst-Gespräch für ein neues rot-grünes Projekt. Der Klimaschutz gehöre – nicht erst seit den Ergebnissen der Europawahl – ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen.
Also, wenn Sie mich fragen – was brauchen wir, um der Lösung oder Bewältigung unserer Probleme näher zu kommen?
„Was wir heute brauchen, ist ein neues rot-grünes Projekt, das soziale Demokratie und ökologische Tragfähigkeit dauerhaft miteinander verbindet. Nur dann wird der sozial-ökologische Umbau, um den es geht, möglich werden. Doch die SPD wirkt wie eine Partei aus einer niedergehenden Epoche. Auf der anderen Seite tragen die Grünen mit ihrem Kuschelkurs zur Verflüssigung der Politik bei. Es kann jedoch weder einen Umbau mit neoliberalen Konzepten noch eine konfliktfreie Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft geben. Deshalb ist Schwarz-Grün nicht mehr als eine Machtoption, kein ‚politisches Projekt‘, das wir aber dringend brauchen. Unsere Zeit ist zwar politisiert, aber sie ist offenkundig nicht politisch. Politisch sein erfordert nämlich ein sozial-ökologisches Gesellschaftsprojekt und ein neues Fortschrittsmodell.“
Waren wir nicht schon mal weiter?
„Das Berliner SPD-Grundsatzprogramm war vor zwei Jahrzehnten, als die rot-grüne Bundesregierung an den Start ging, stark ökologisch orientiert. Damals waren die meisten ausgewiesenen Umweltpolitiker des Bundestags Sozialdemokraten: Monika Griefahn, Hermann Scheer, Ulrike Mehl, Ernst Ulrich von Weizsäcker – ich eingeschlossen. Doch wir ‚grüne Rote‘ wurden zwar geachtet, nicht aber akzeptiert, man gestand uns keinen echten Einfluss zu, denn in der Regierung Schröder/Fischer war ‚Umwelt Sache der Grünen‘. Weitergehende Forderungen unsererseits wurden mit ‚Das wollen ja nicht einmal die Grünen‘ abgelehnt. Zum Beispiel wollten wir einen Anteil des Aufkommens aus der Öko-Steuer in die Modernisierung der öffentlichen Verkehrssysteme stecken. Nicht nur das Wirtschaftsministerium, auch die Grünen waren dagegen. Und beim Atomausstieg wollten wir eine gesetzliche Ausstiegsregelung, um spätere Laufzeitverlängerungen zu verhindern. Dazu gehörte auch eine Umkehr der Beweislast an die Betreiber, dass die Atomkraftwerke auf Dauer sicher sind. Auch das wurde mit Verweis auf die grünen Mitglieder im Bundeskabinett abgeblockt. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Es geht aber nicht nur um einzelne Punkte.“
Ist das historisch zu erklären?
„Linksparteien sind historisch betrachtet stark von der Idee der Linearität, die aus der jüdisch-christlichen Tradition stammt, geprägt. Dahinter steht die richtige Grundidee, die Emanzipation der Menschen zu befördern. Im Laufe vor allem des letzten Jahrhunderts wurde die Idee des Fortschritts aber immer stärker auf wirtschaftliches Wachstum und eine technische Entwicklung verengt – die ökologischen Grenzen wurden verdrängt. Das Mittel zum Ziel wurde zum Ziel an sich.
Heute funktioniert das „Menschenrecht auf Irrtum“, das die technische Entwicklung prägt, in wichtigen Bereichen nicht mehr, weil aus beherrschbaren Risiken unverantwortliche Gefahren werden, was sich nicht nur beim Klimawandel zeigt. Einige Ideengeber der Fortschrittsidee, etwa Karl Marx, haben die Gefahren der Naturzerstörung durchaus schon gesehen. Doch die Strategie, die den Weg in eine bessere Gesellschaft an der Entfaltung der Industrie festmachte, beherrschte das Denken, auch unter dem Eindruck der gewaltigen wirtschaftlichen Leistungskraft. Mit der Globalisierung in der Überlastung und Zerstörung der Natur bricht diese Strategie zusammen. Die kurzfristige Externalisierungswirtschaft fällt auf uns zurück.“
Ist das denn noch heilbar – oder was müssen wir also, was muss die SPD tun, um sich zu erneuern?
„Unverändert gültig bleibt der Grundgedanke der sozialen Emanzipation: Mehr Freiheit. Gerechtigkeit und Verantwortung des Menschen für die Menschheit insgesamt. Aber der Weg dorthin kann nicht in der Verlängerung des heutigen ‚Schneller, Höher, Weiter‘ bestehen. Wir brauchen eine solare Wirtschaft, geschlossene Stoffkreisläufe, die Verbindung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit. Die Ressourcenproduktivität muss deutlich über dem Wachstum der Wirtschaft liegen. Und wir brauchen mehr Demokratie und Verteilungsgerechtigkeit. Grundlage dafür ist die Leitidee der Nachhaltigkeit, die von der norwegischen Sozialdemokratin Gro Harlem Brundtland stammt – sie wurde 2007 von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zur Sonderbeauftragten für den Klimawandel berufen. Obwohl die Bundeskanzlerin einmal Umweltministerin war, kann sie diesen Wandel in unserem Land offenkundig nicht organisieren. Denn sie reagiert nur auf Ereignisse, aber sie gestaltet nicht aktiv. Im eigentlichen Sinne ist sie nicht politisch.“
Bleibt also nur die – aktuell eher theoretisch erscheinende – Option Rot-Grün?
„Die Weichen müssen schnell für Rot-Grün gestellt werden – von beiden Seiten. Dieses Projekt muss um eine kulturelle Hegemonie kämpfen. Denn ohne eine möglichst schnelle sozial-ökologische Transformation wird das Ziel nicht erreicht werden können, die Überschreitung von Kipppunkten zu verhindern, jenseits derer irreversible Zerstörungen an den Öko-Systemen eintreten. Wir haben nämlich viel Zeit verloren. Wenn man bedenkt, dass bereits im Enquete-Bericht „Schutz der Erde“ von 1990 ein umfassendes Programm für echten Umbau und Modernisierung vorlag, mit einer Erwärmungsobergrenze von 1,5 Grad und einer Verringerung der Treibhausgase bis 2005 um 33 Prozent. Darin sind schon damals auch schon Hemmnisse und Widerstände benannt worden. Die Regierung Helmut Kohl hatte damals den Kabinettsbeschluss daraus gemacht, bis 2005 in den alten (!) Bundesländern die Treibhausgase um mindestens 25 Prozent zu senken und in den neuen um einen noch höheren Prozentsatz.
Es war also keine Frage des Wissens, sondern des Handelns. Damals wurde der kardinale Fehler gemacht, den Aufbau Ost nicht mit den Umbau West zu verbinden. Die Siegerlaune hat alles verdrängt. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich allein der weltweite Kohlendioxidausstoß nahezu verdoppelt. Offenkundig hatte Churchill mit seiner Warnung Recht: „Die Lehre aus der Geschichte der Menschheit ist die Unbelehrbarkeit“ – oder Hegel: „Aus der Geschichte der Völker können wir lernen, dass die Völker nichts aus der Geschichte gelernt haben“. Dennoch: Umso mehr muss der Klimaschutz sofort in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt werden – aus sozialer, ökonomischer und ökologischer Verantwortung. Es darf keinen Zweifel geben: Das scheinbar nur politisch Machbare reicht nicht mehr aus. Der Klimawandel wartet nicht – die Zeit läuft uns davon.“
Michael Müller, seit 1966 SPD-Mitglied, ist Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands, er war von 1983 bis 2009 SPD-Bundestagsabgeordneter und von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Kabinett Merkel I. 2011 bis 2013 gehörte Müller der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ als Sachverständiger an (berufen auf Vorschlag der SPD). 2014 bis 2016 war er neben Ursula Heinen-Esser einer der beiden Vorsitzenden der Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“. Als solcher forderte er (anlässlich der von E.ON angekündigten Aufspaltung), die Betreiber von Kernkraftwerken in Deutschland sollten die von ihnen gebildeten Rückstellungen an den Staat überführen, damit das Geld nicht – zum Beispiel bei einer Insolvenz – verloren gehen kann. (nach de.wikipedia.org)