Bevölkerungswachstum als bisher kaum beachtete Klimabedrohung
Die Weltbevölkerung wächst. Was bedeutet das für die Erde? Verbrauchen mehr Menschen mehr Ressourcen und verursachen so die globale Erwärmung? Keineswegs alle im Netz teilen die inzwischen gefestigte Lehrmeinung von der anthropogenen Erderwärmung. Manche Leser leugnen oder bezweifeln sie rundheraus. Andere verweisen auf hohe Geburtenraten in afrikanischen Ländern – wegen des dortigen Bevölkerungswachstums nütze es nichts, wenn wir in Deutschland aktiv würden, um das Klima zu retten. Die Fragen im folgenden Interview mit Prof. Peter Hennicke (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie) stellte Charlotte Janus, Redakteurin User Engagement auf t-online.de (Ströer-Gruppe). Hennicke reagiert auf in Leserkommentaren genannte Thesen – und räumt mit weit verbreiteten Fehlannahmen auf.
Welche Herausforderungen bringt eine zunehmende Zahl von Menschen in Bezug auf das Klima mit sich?
- (Leser-Argument: „Probleme vor allem mit dem Klima sind einfach zu lösen, wenn jeder erkennen würde, dass der Anstieg der Weltbevölkerung die entscheidende Ursache ist.“)
Zwischen Bevölkerungswachstum, steigenden Energieverbrauch und beschleunigtem Klimawandel besteht ein komplizierter und ein derzeit noch prekärer Zusammenhang. Aber das Bevölkerungswachstum ist nicht die entscheidende Ursache für Klimawandel. Klaus Töpfer und Reiner Klingholz sprechen vom „Trilemma des Wachstums“. Wir wissen zwar, wie wir dieses Trilemma prinzipiell in Zukunft lösen können, nämlich durch Armutsbekämpfung, durch eine Revolution der Energie- und Ressourceneffizienz und durch forcierten Ausbau erneuerbarer Energien. Aber bis heute bedeutet eine wachsende Weltbevölkerung (noch) einen Mehrverbrauch fossiler Energien und damit global wachsende CO2-Emissionen und beschleunigten Klimawandel. Im Jahr 1900 lag die Weltbevölkerung bei 1,6 Mrd., heute leben 7, 6 Mrd. auf unserem Planeten, im Jahr 2100 wird von der UNO eine Bandbreite der Weltbevölkerung zwischen 9,4 -12,7 Mrd. geschätzt.
Aber der Bevölkerungszuwachs flacht schon jetzt deutlich ab und wird im sogenannten „demografischen Übergang“ im nächsten Jahrhundert in eine sinkende Weltbevölkerung einmünden. Solange kann aber der Klimaschutz nicht warten: Im Gegenteil spätestens 2050/2060 muss das gesamte weltweite Energiesystem vollständig „dekarbonisiert“ sein, wenn der globale Temperaturanstieg deutlich unter 2 oC ( „well below 2 oC „) gehalten werden soll. Ist das möglich, trotz weiter wachsender Bevölkerung? Die auf Weltszenarien gestützte Antwort lautet: Prinzipiell ja – wenn viel energischer als bisher mit allen bekannten Klimaschutzmaßnahmen – allen voran die Steigerung der Energieeffizienz, die beschleunigte Markteinführung erneuerbarer Energien und die Deponierung/Nutzung von CO2 (CCS/CCU) vor allem aus Industrieprozessen – weltweit Ernst gemacht würde. Zum Beispiel geht eine Studie der Standford University (2017) davon aus, dass in 139 Ländern bis 2050 bei massiver Steigerung der Energieeffizienz eine 100% Versorgung mit erneuerbaren Energien mit einem Job-Gewinn von netto (nach Abzug der Job-Verluste) von rd. 24 Mio möglich ist – bei üblichen Annahmen über weiteres Bevölkerungswachstum.
- Wirken sich mehr Menschen grundsätzlich negativ auf das Weltklima aus?
(Leser-Argument: „Durch die Bevölkerungsexplosion in Afrika, gehen wir unter, weil unsere Ressourcen nicht reichen.“)
Tatsache ist: Bevölkerungswachstum und (noch) weitgehend fossiles Energiewachstum findet ganz überwiegend in Ländern statt (z.B. Subsahara Afrika, in Zentral- und Süd-Asien) , die bisher am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, aber am stärksten unter ihm leiden. Insofern muss dort die wirtschaftliche Entwicklung möglichst rasch vom Bevölkerungswachstum und fossilem Energieverbrauch entkoppelt werden. Trotzdem wäre eine „Schuldzuweisung“ an Länder mit (noch) hohem Bevölkerungszuwachs völlig unangebracht. Stattdessen müssen wir beim Klimawandel mehr über historische Verursachung durch die Industrieländer, über ungleiche Schadensverteilung auf arme Länder und Haushalte sowie generell mehr über globale Gerechtigkeit und Solidarität sprechen. Die Armen im globalen Süden (wie auch innerhalb des Nordens) leben nämlich (unfreiwillig) wesentlich klimafreundlicher als die Reichen.
Ein typischer Dialog zwischen dem reichen globalen Norden und dem armen Süden könnte daher wie folgt lauten. Fragt der reiche Norden: Wieviel Bevölkerungswachstum können wir uns in Afrika noch leisten? Antwortet der arme Süden: Die Frage ist falsch gestellt. Zutreffender müsste sie lauten: Wieviel Amerikaner oder Europäer können wir uns noch leisten! Ein Inder verursacht z.B. im Jahr 2016 im Durchschnitt rd. 1,6 t CO2/Jahr, ein Amerikaner rd.15 t CO2/Jahr und ein Deutscher rd. 9 t CO2/Jahr. Dass die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für klimawirksame Gase (THG) bereits übernutzt ist liegt an der historisch vorherrschenden imperialen Produktions- und Konsumweise des reichen Nordens d.h. am verschwenderisch hohen und nicht verallgemeinerungsfähigen Energie- und Ressourcenverbrauch pro Kopf in praktisch allen Industriestaaten, allen voran die USA – von unnötig hohem generellen Ressourcenverbrauch und übergroßen Müllmengen pro Kopf ganz zu schweigen!
Die Industrieländern müssen daher beim Klima- und Ressourcenschutz energisch vorangehen und eine Führungsrolle übernehmen! Unverantwortlich wäre, das Bevölkerungswachstum in armen Ländern zum Vorwand eigenen Nichthandelns zu nehmen! Eine fatale Fehlentwicklung ist dabei auch, dass ein rasch wachsender Anteil neuer Mittel- und Konsumklassen in Schwellenländern (zum Beispiel in China, Indien, Brasilien, Mexico, Südafrika) den verschwenderischen Lebensstil des reichen Nordens zu kopieren versucht. Wir müssen gemeinsam nachhaltigere Produktions-, Konsum- und Lebensstile praktizieren, um das Klima trotz Bevölkerungswachstum zu retten!
- Muss das Wachstum der Weltbevölkerung begrenzt werden, um die Klimaerwärmung in den Griff zu bekommen?
(Leser-Argument: „Wenn der Anstieg der Weltbevölkerung reduziert oder minimiert würde sind auch Lösungen für alle anderen Probleme denkbar und durchführbar.“)
Bevölkerungswachstum zu begrenzen ist aus vielen Gründen notwendig, funktioniert aber nur dann, wenn die Strategien für die Menschen einsichtig sind und auf die eigentlichen Ursachen des Bevölkerungswachstums zielen. Klimaschutz ist dabei nicht die wichtigste Zielgröße. Es gibt drei zentrale Strategien Bevölkerungswachstum zu begrenzen: 1. Wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung, 2. mehr Bildung (über die Grundschule hinaus) für Mädchen und junge Frauen sowie 3. sexuelle Aufklärung und freier Zugang zu Verhütungsmitteln. Partizipation und gleiche Rechte auch für Mädchen und Frauen sind generell wesentliche gesellschaftliche Voraussetzungen. Noch gibt es weltweit mindestens 850 Mio Analphabeten. Fast ebenso viele Menschen gehen jeden Tag hungrig ins Bett. Fast 70 Millionen wurden durch bewaffnete Konflikte vertrieben, neun von zehn Flüchtlingen wurden weltweit durch Entwicklungsländer bei ohnehin prekärer Ausgangslage aufgenommen.
Nach Angaben der Weltbank leben noch 736 Mio Menschen in „extremer Armut“ , d.h. von weniger als 1,6 Euro pro Tag. 3,6 Mrd. Menschen sind von Wasserknappheit betroff. Global leben etwa 2,5 Mrd. Menschen in existentieller Energiearmut, d.h. mit weniger als 4000 kWh pro Jahr (zum Vergleich: in Deutschland 48.000 kWh/pro Jahr). Die Überwindung dieser vielfältige Armutsgründe für Bevölkerungswachstum liegt im ureigenen Interesse der „Least Developed Countries“ (LDCs) mit hohem Bevölkerungszuwächsen und sollte massiv durch die internationale Staatengemeinschaft unterstützt werden – wenn es zur Durchsetzung ambitionierterer Hilfsprogramme beiträgt, auch mit dem Argument Klimaschutz. Dass der Armut bedingte Druck auf Ressourcen- und Energieverbrauch sowie auf den Klimawandel begrenzt wird, ist ein erwünschter positiver Nebeneffekt von nachhaltiger Entwicklung, rechtfertigt aber keinesfalls eine vom Norden aufoktroyierte Strategie „Bevölkerungskontrolle für Klimaschutz“.
- Welche Maßnahmen wären sinnvoll, um Klimaprobleme durch eine wachsende Bevölkerung in den Griff zu bekommen?
(Leser-Argumente: „Wäre es nicht sinnvoller, in den Wachstumsgebieten Geburtenkontrolle zu installieren?“, „Ein Grund für das Wachstum ist die fehlende Sozialversicherung.“)
Die hohe Korrelation zwischen Armut/Unterentwicklung und Bevölkerungszuwachs ist eindeutig und empirisch gut erforscht. Darauf gründen auch die Sustainable Development Goals (SDGs) soweit sie sich auf unterentwickelte Länder beziehen. Wenn von den 17 SDGs insbesondere die Nachhaltigkeitsziele 1-10 sowie 13 und 16 (1. No poverty, 2. Zero Hunger, 3. Good Health and Well Being, 4 Quality Education, 5. Gender Equality, 6. Clean Water and Sanitation, 7. Affordable and Clean Energy, 8. Decent Work and Economic Growth, 9. Industry Innovation and Infrastructur, 10. Reduced Inequality, 13. Climate Action sowie 17. Peace, Justice and Strong Institutions) tatsächlich bis 2030 erreicht wären, braucht sich niemand um Bevölkerungswachstum Sorgen zu machen: es wäre dann sehr wahrscheinlich, dass das globale Bevölkerungswachstum bis 2100 auf einen unteren Wert (weniger als 9,4 Mrd.) begrenzt würde und die Anzahl der Kinder pro Frau auf 1,9 , also in Richtung schrumpfende Bevölkerung, absinkt. Wie kann dies rasch erreicht werden? Um nur eine erfolgversprechende Strategie, die Bildung, herauszugreifen: Für Mädchen und Frauen mit guter Ausbildung eröffnen sich neben der Mutterrolle neue Berufswege. Sie bekommen später und wenige Kinder und sie können auf gesundes Aufwachsen der Kinder und deren Ausbildung besser achten. Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit konnte weltweit deutlich gesenkt werden. Dennoch sterben noch weit mehr Neugeborene in Entwicklungs- als in Industrieländern: „Frauen zu stärken, gilt als der effizienteste Weg zur Entwicklung“, formulieren R. Klingholz und K. Töpfer bündig. Andere sagen „Bildung ist das wirksamste Verhütungsmittel“. Je besser abgesichert es Menschen geht, desto weniger „bedeuten Kinder eine Versicherung“.
Dass mit den genannten Strategien schon heute die Geburtenrate auf etwa 2 Kinder pro Frau abgesenkt werden kann zeigen z.B. Länder wie Vietnam, Brasilien, Tunesien und Mexiko, alles Länder mit unterdurchschnittlichen CO2-Emissionen pro Kopf. Südkorea hat nach dem Koreakrieg (1953) dem Sprung vom Entwicklungsland (z.B. 6 Kinder pro Frau) zur Gruppe der heutigen 15 wohlhabendsten Länder der Welt geschafft.
- Was können wir in Deutschland durch Klimaschutzmaßnahmen bewirken, wenn wir in Vergleich zu Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum nur einen geringen Teil der Weltbevölkerung ausmachen?
(Leser-Argument: „Diese Zunahme der Weltbevölkerung macht alle sogenannten Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland sinnlos.“)
Der globale energiebezogene Klimaschutz, also ein möglichst vollständiger Ersatz von Kohle, Öl und Erdgas innerhalb von drei bis vier Jahrzehnten, ist die größte gemeinsame Herausforderung, vor der die Menschheit jemals stand. Dieser Herausforderung muss durch internationale Klimaschutzabkommen begegnet werden, aber die sind langsam und nur mühsam umsetzbar. Letztlich entscheidend für schnelleren Klimaschutz sind Vorreiter-Länder die demonstrieren, dass eine hoch ambitionierte sozialökologische Transformation und Dekarbonisierung des Energiesystems nicht nur machbar, sondern auch mit mehr sozioökonomischen Vor- als Nachteilen verbunden ist.
Die deutsche Energiewende hat als Vorbild in Bezug auf den rasch wachsenden erneuerbaren Stromsektor (vor allem Solar und Wind) weltweit eine viel beachtete Vorreiterrolle gespielt. Wegen der durch Lobbyinteressen gebremsten mutlosen Politik und wegen der bisher nicht angepackten Wende im Verkehrs- und Gebäudesektor besteht nun die Gefahr, das unschätzbare Markenzeichen für Wettbewerbsfähigkeit „Energiewende made in Germany“ zu verlieren. Wer den kühnen Schritt zur nachhaltigen Mobilität und zur vorbildlichen energetischen Sanierung des Gebäudebestandes hinauszögert, kann langfristig in einer dekarbonisierten Welt nur verlieren. Eine Vielzahl von Szenarien zeigen dagegen für Deutschland, dass eine mutige Vorreiterrolle bei der CO2-Reduktion einen sozial-ökologischen Transformations- und Innovationsprozess mit erheblichen (Netto)-Vorteilen bedeuten könnte. Wird der unvermeidliche wirtschaftliche Strukturwandel zur Dekarbonisierung und Risikominimierung (d.h. gleichzeitiger Ausstieg aus der Atomenergie) vorausschauend angepackt und sozial flankiert, dann könnte Deutschland mit einer erfolgreichen Energiewende ein Vielzahl von Vorteilen demonstrieren: ein (Netto-)Zuwachs von Arbeitsplätzen durch Energieeffizienz und Erneuerbare, langfristig sinkende Energiekostenbelastung, drastisch reduzierte Luftverschmutzung, Lärmreduktion und mehr Verkehrssicherheit und nicht zuletzt weniger Energieimportabhängigkeit und damit auch ein Beitrag zur Friedenssicherung. All diese Vorteile engagierter nationaler Klimaschutzpolitik sind möglich und für andere Länder vielleicht Ansporn für eigenes Handeln, obwohl Deutschlands Anteil an der Weltbevölkerung mit weniger als 1% in der Tat gering ist.
- Gibt es ein Limit an Bevölkerung, das die Welt aushalten kann?
(Leser-Argument: Die egoistische Einstellung der Menschheit führt zwangsläufig auf einen globalen Crash hin, welcher zu einer grundsätzlichen Bereinigung der Fehlentwicklungen auf der Erde führen muss.“
Ein „Limit an Bevölkerung“ als Schutz vor einem Crash zu fordern ist schon deshalb nicht sinnvoll, weil der „demographische Übergang“ gegen Ende dieses Jahrhunderts eine Phase sinkender Weltbevölkerung einleiten wird. Un die Tendenz ist eindeutig: 1963 haben weltweit Frauen im Durchschnitt ca. fünf Kinder zur Welt gebracht, 2012 waren es nur noch etwa 2,5. Der Globus kann nur deshalb uns Menschen nicht mehr „aushalten“, solange wir weiter exzessiv auf Kosten der Um-, Mit- und Nachwelt produzieren und konsumieren, d.h. an extrem nichtnachhaltigen Produktions- und Konsumstilen festhalten!
Der Crash kommt nicht über das Bevölkerungswachstum, sondern – wenn wir weiter die „planetaren Grenzen“ (Rockström et al.) überschreiten – durch die maßlose Ausplünderung der Ressourcen, durch die Übernutzung aller natürlichen Senken (allen voran die Nutzung der Atmosphäre als Müllkippe für Treibhausgase), durch das schrankenlose Wachstum des Finanzkapitals sowie durch die Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen. Der Club of Rome spricht von einer „vollen“ im Vergleich zur früheren „leeren“ Welt. Gemeint ist, dass „die Grenzen des Wachstums“ bereits überschritten sind und eine Selbstzerstörung der Menschheit auf einem völlig überhitzten Planeten nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Das könnte dann Milliarden Menschen die Lebensgrundlage entziehen und deren Anzahl würde mit dem Bevölkerungswachstum zunehmen. Aber noch haben wir viele Chancen zum Umsteuern. Nutzen wir sie endlich!
Professor Peter Hennicke war bis 2008 Präsident des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Heute ist er dort in beratender Funktion an diversen Projekten unter anderem zum Thema Ressourceneffizienz beteiligt. Hennicke ist Träger des Deutschen Umweltpreises und seit 2014 Mitglied der Organisation „Club of Rome“, die sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschen auf der Erde einsetzt. (Foto: Prof. Peter Hennicke – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify)
->Quellen:
- Text von Prof. Peter Hennicke
- t-online.de/weltbevoelkerungstag-zerstoert-die-wachsende-weltbevoelkerung-das-klima
- Reiner Klingholz/Klaus Töpfer, Das Trilemma des Wachstum, Berlin 2012
- United Nations, World Population Prospects 2019. Highlights, New York 2019
- Peter Hennicke, Jana Rasch, Judith Schröder, Daniel Lorberg, Die europäische Energiewende. Eine Fortschrittsvision, München 2019