Experten fordern systemübergreifende Ansätze für die Energiewende
Deutschland soll bis zum Jahr 2050 treibhausgasneutral werden. In genau zwei Wochen (am 20.09.2019) will das Klimakabinett entscheiden, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Fest steht: Die Umsetzung ist kompliziert, und mit den verpassten Klimazielen für das Jahr 2020 ist Deutschland bisher nicht auf Kurs. Wie ist die Energiewende also noch zu schaffen? Fachleute des Akademienprojekts von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) geben der Bundesregierung in einer gemeinsamen Medienmitteilung zehn systemübergreifende Punkte mit auf den Weg. Einen wirksamen CO2-Preis über alle Sektoren sehen die Wissenschaftler als Leitinstrument für den Klimaschutz an.
In 10 Jahren COP21-Grenze überschritten
Weniger Energieverbrauch, mehr Schnittstellen zwischen den Sektoren Strom, Wärme und Verkehr, flexible Lösungen für Stromschwankungen und Speicher: Die Herausforderungen beim Umbau der Energieversorgung sind groß. Bisher konnte sich die Regierung allerdings noch nicht auf einen Weg einigen. Doch die CO2-Uhr tickt: Machen wir weiter wie bisher, haben wir weltweit schon in zehn Jahren mehr Treibhausgase ausgestoßen als es das Pariser Klimaabkommen zulässt. Wirkungsvolle Maßnahmen zur Kohlendioxid-Reduzierung müssen deshalb so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden.
Die ESYS-Wissenschaftler haben zehn Punkte identifiziert, die die Bundesregierung zügig umsetzen sollte. ESYS-Sprecher Dirk Uwe Sauer (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen) erklärt: „Um die Klimaziele zu erreichen, brauchen wir systemübergreifende Ansätze. Dazu zählen beispielsweise innovative und effiziente Technologien zur direkten Stromnutzung wie Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge sowie wasserstoffbasierte Anwendungen. Doch nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen und Lösungen für die Energiewende gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern entwickelt werden, lassen sich diese auch durchsetzen“.
Klimaschädliches Kohlendioxid über alle Sektoren hinweg zu bepreisen, halten die Wissenschaftler für unumgänglich. Der stellvertretende ESYS-Sprecher Christoph M. Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und Präsident des RWI – Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, fasst die Vorteile eines sektorübergreifenden CO2-Preises zusammen: „Ein Preis auf CO2 stellt das Ziel, die Treibhausgasemissionen spürbar zu senken, in den Mittelpunkt. Die Idee ist simpel: Klimafreundliches Verhalten wird belohnt, die Nutzung von Kohle, Öl, Benzin oder Diesel wird bestraft. Damit der CO2-Preis sein volles Potenzial entfalten kann, sollte sich Deutschland schnellstmöglich mit starken Partnern in Europa verbünden.“ Denn nur mit einer internationalen Allianz für den Klimaschutz lasse sich etwa verhindern, dass Unternehmen ihre Produktion in andere Länder verlagern („Carbon Leakage“).
Wie die CO2-Bepreisung konkret umgesetzt werden und was mit den Einnahmen geschehen sollte, wird derzeit intensiv diskutiert. Die ESYS-Fachleute sprechen sich dafür aus, den Europäischen Emissionshandel auf alle Sektoren auszuweiten und einen Mindestpreis einzuführen. Zugleich sollten Ausgleichszahlungen sicherstellen, dass niemand unverhältnismäßig stark belastet wird. Dazu könnten sich die Wissenschaftler beispielsweise eine Pro-Kopf-Rückerstattung vorstellen. Weitere Vorschläge zur CO2-Bepreisung und zur Reform des Systems an Steuern, Abgaben und Umlagen hat eine ESYS-Arbeitsgruppe jüngst in ihrem Impuls „Über eine CO2-Bepreisung zur Sektorenkopplung: Ein neues Marktdesign für die Energiewende“ zusammengefasst (siehe: solarify.eu/einheitlicher-co2-preis-als-schluessel-fuer-effizientes-marktdesign).
Darüber hinaus betonen die ESYS-Fachleute, die Energiewende könne nur gelingen, wenn die erneuerbaren Energien deutlich schneller ausgebaut würden als bisher. Eigene Modellrechnungen zeigen, dass die Leistung der Windkraft- und Solaranlagen bis 2050 auf ein Fünf- bis Siebenfaches anwachsen müsste, damit grüner Strom auch zum Heizen, für industrielle Prozesse und als Antrieb im Verkehr genutzt werden könne. Energieeffizienz kann helfen, diesen Ausbau zu begrenzen und die Belastungen für Bürgerinnen und Bürger möglichst gering zu halten. Das Leitinstrument für mehr Investitionen in erneuerbare Energien und effiziente Lösungen ist ein sektorübergreifender CO2-Preis. Maßnahmen wie Markteinführungsprogramme für klimaschonende Technologien, Anreize zum Austausch ineffizienter Ölheizungen und Kühlgeräte sowie mehr Aufklärungskampagnen und Energieberatungen stellen mögliche flankierende Mechanismen dar.
Auch für einen klimafreundlichen Verkehr liefern die ESYS-Fachleute Vorschläge. Sie skizzieren denkbare Technologien für die Mobilität der Zukunft: Elektrofahrzeuge im Stadt- und Kurzstreckenverkehr, Wasserstoff und elektrische Oberleitungen im Schwerlast- und Fernverkehr sowie Biokraftstoffe und synthetische Kraftstoffe im Güter-, Schiffs- und Flugverkehr. Aufgrund hoher Infrastrukturkosten könnten jedoch nicht alle Optionen parallel umgesetzt werden.
Hier sei die Politik gefragt, im Dialog mit Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft kluge Entscheidungen zu treffen. Neben innovativen Technologien brauche es neue Konzepte zur Verkehrsvermeidung und -verlagerung, etwa indem mehr Fahrzeuge geteilt und der öffentliche Personennahverkehr sowie der schienengebundene Verkehr ausgebaut werden. Maßnahmen wie ein Tempolimit auf Autobahnen, zeitvariable Mautsysteme und eine Besteuerung von Flugbenzin können helfen, die Emissionen im Verkehr zu reduzieren.
Die 10 Punkte für ein integriertes Energiesystem
- Generationenprojekt Energiewende gemeinsam gestalten
- Internationale Allianzen für einen sektorübergreifenden CO2-Preis schmieden
- Steuern, Abgaben und Umlagen reformieren
- Energie? und Ressourceneffizienz priorisieren
- Den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen
- Flexibilität und Sektorkopplung als Leitprinzipien der Energieversorgung verankern
- Mobilität neu denken, Konzepte für einen klimaschonenden Verkehr entwickeln
- Anstrengungen im Gebäudesektor deutlich erhöhe
- Bioenergie systemdienlich nutzen
- CCS-Technologie und CO2-Kreislaufwirtschaft (CCU) neu diskutieren
Einige Vorschläge im Überblick:
- Die Energiewende muss gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden. Diese sollten in Planungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden und transparent über die Chancen, Folgen und Kosten der Energiewende informiert werden.
- Ein wirksamer CO2-Preis über alle Sektoren ist das Leitinstrument für den Klimaschutz. Dazu sollte der Europäische Emissionshandel auf alle Sektoren ausgeweitet und ein Mindestpreis eingeführt werden.
- Damit sich klimaschonende Technologien am Markt durchsetzen können, muss das System an Steuern, Abgaben und Umlagen dringend reformiert werden.
- Erneuerbare Energien müssen deutlich schneller ausgebaut werden als bisher. Energieeffizienz kann helfen, diesen Ausbau zu begrenzen und die Belastungen zu reduzieren.
- Der Verkehr wird nur mit einem Technologiemix klimafreundlich. Denkbar sind etwa Elektrofahrzeuge, Wasserstoff, elektrische Oberleitungen, synthetische Kraftstoffe und Biokraftstoffe. Darüber hinaus braucht es Konzepte zur Verkehrsvermeidung und -verlagerung.
- Um die Emissionen im Gebäudesektor zu senken, müssen bis 2050 alle Öl- und Gasheizungen ersetzt werden. Gleichzeitig sollte die Sanierungsrate von heute einem Prozent auf 1,5 bis 2 Prozent steigen.
Die Impulse „Wege zu einem integrierten Energiesystem – was jetzt geschehen muss“ und „Über eine CO2-Bepreisung zur Sektorenkopplung“ sind abrufbar unter: www.energiesysteme-zukunft.de/publikationen
->Quellen: