Gastbeitrag von Franz Baumann
Franz Baumann nennt die „Erderhitzung die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte“. Bundeskanzlerin Merkel habe sie vor der COP23 die „zentrale Herausforderung der Menschheit“ genannt – sie entscheide als eine Schicksalsfrage über unser aller Wohlergehen. Weil aber die tatsächlichen Umwelt- und Gesundheitskosten fossiler Energien nicht beglichen, sondern auf die lange Bank geschoben würden, sei Treibhausgasneutralität „eine ebenso gigantische wie politisch heimatlose Aufgabe“. Baumann: „Verzwickt, schmerzhaft und teuer wird es werden, aber lange nicht so wie weitere Lösungsverschleppung“.
Franz Baumann ist seit 2017 Gastprofessor an der New York University, Senior Fellow und Mitglied des Kuratoriums der Hertie School of Governance (Berlin). Er ist außerdem Mitglied im Direktorium des Wissenschaftsrats des Systems der Vereinten Nationen (Academic Council on the United Nations System) sowie des Beirats des Zentrums für UN Studien an der Buckingham University (England). Er war jahrelang Beigeordneter Generalsekretär der Vereinten Nationen a.D..
Politik ist die Auseinandersetzung um gesellschaftliche Ziele sowie um Wege, Ressourcen und Tempo zu ihrer Erlangung, und Demokratie ein Rahmen – es gibt andere – in dem diese Auseinandersetzung stattfindet.
Freiheitlichen Demokratien gemeinsam ist ein Bündel von normativen Attributen: Freie Wahlen, an denen alle Bürger mühelos und gleichberechtigt teilnehmen können; verbriefte Grundrechte betreffend Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit; Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und unabhängiger Justiz; transparentes sowie regelbasiertes Verwaltungshandeln, freie Medien und unabhängige Wissenschaft.
Die Grundannahme ist, dass Demokratien, weil sie offen sind und weil sich die Regierenden bei der Bevölkerung periodisch um ein neues, zeitlich beschränktes Mandat bewerben müssen, besser als andere Regierungsformen komplexe Herausforderungen bewältigen können. Im Folgenden geht es um die Benennung der Hürden, die heutige westliche Demokratien überwinden müssen, um die Erderhitzung zu verlangsamen und um ihre Folgen abzuschwächen. Deutschland steht beispielhaft für die Gattung westlicher demokratischer Industrieländer, in denen sich in den vergangenen sechzig Jahren der heutige – historisch einmalige, nun jedoch als normal empfundene – Wohlstand entwickelte, dessen ökologische Kosten zunehmend deutlicher werden.
Die Erderhitzung ist die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte. Nero, Napoleon, Hitler, Stalin oder Mao konnten keine Gletscher abschmelzen und den Meeresspiegel ansteigen lassen. Die heutigen Menschen können es. Und sie tun es.
Bundeskanzlerin Merkel, die bekanntlich weder zum Drama noch zur Übertreibung neigt, sagte auf der Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn im November 2017 (COP23), dass wir „vor der zentralen Herausforderung der Menschheit stehen. Der Klimawandel ist für unsere Welt eine Schicksalsfrage. Sie entscheidet über das Wohlergehen von uns allen.“1 Die Erderhitzung ist ein noch nie dagewesenes, globales Politikproblem.
Obwohl die Erderhitzung das Überleben der Menschheit gefährdet, entzieht sie sich einfachen Lösungen,
- weil ihre Ursachen sowohl weit in die Geschichte zurückreichen als auch weit in die Zukunft wirken.
- weil ihre Auswirkungen global sind, wenn auch nicht gleichmäßig: Die Menschen im Süden haben am wenigsten zum Problem beigetragen, sind aber am meisten von den Folgen betroffen.
- weil die Erderhitzung der Nebeneffekt legitimen Wirtschaftens ist, das heißt die Kehrseite des ungeheuren Wohlstandsschubs der letzten Jahrzehnte.
- weil dem beispiellosen Reichtum einer Minderheit auf der Welt die gravierende Armut einer Mehrheit gegenübersteht und ökologische Nachhaltigkeit von nationaler, regionaler, internationaler und intergenerationeller Verteilungsgerechtigkeit nicht getrennt werden kann.
- weil die Zeit drängt: Was in den kommenden Jahrzehnten geschieht – oder eben nicht geschieht – wird die Lebensverhältnisse der nächsten Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende bestimmen.2
Die Erderhitzung ist schon lange keine Frage der Wissenschaft, mangelhafter Daten, unvorhersehbarer Entwicklungen oder unerwarteter Enthüllungen mehr. Der deutsche Bundestag richtete 1987 die Enquete-Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre ein, die ihren ersten Zwischenbericht im November 1988 vorlegte.3 Den 300 Seiten sorgfältiger wissenschaftlicher Analyse und Politikempfehlungen ist selbst heute – über dreißig Jahre nach der Veröffentlichung – wenig hinzuzufügen, außer dass, wegen der vergeudeten Zeit, der Spielraum nun enger ist und die Umsteuerung teurer, schwieriger und konfliktreicher sein wird.
Nun ist die Erderhitzung kein Problem mehr, das billig, schmerzlos, lokal, regional, national oder kontinental gelöst werden kann. Sie ist auch mit Sicherheit keine Angelegenheit persönlicher Tugend oder individueller Lebensstile. Stattdessen ist sie eine Aufgabe solch beträchtlichen Ausmaßes, dass wissenschaftliche, wirtschaftliche oder persönliche Anstrengungen allein nur wenig ausrichten können. Um in der erforderlichen Dimension zu wirken, müssen sie integriert, koordiniert und strategisch in großem Maßstab vorangetrieben werden. Ist dies realistisch oder stößt die Erderhitzung an die Grenze der vorhandenen politischen – nicht der wissenschaftlichen, technischen oder finanziellen – Lösungskapazität? Ist es nicht sogar wahrscheinlich, dass sie diese übersteigt?
Die Erderhitzung ist das Resultat von zu vielen Treibhausgasen in der Atmosphäre, hauptsächlich Kohlendioxid (CO2), aber auch Methan (CH4) und anderen. Kohlendioxid – ein unsichtbares, geruchloses Spurengas – hat die ungute Eigenschaft, Jahrhunderte zum Abbau zu benötigen. Das bedeutet, dass der heutige CO2-Anteil in der Atmosphäre die Summe historischer Bestandsgrößen (stocks) und aktueller Stromgrößen (flows) ist. In der Lösungsdiskussion kann es deshalb nicht nur um aktuelle Emissionen gehen, sondern auch darum, wer wieviel in der Vergangenheit emittiert hat. Weil die Industrialisierung sehr energieintensiv war, haben die USA ca. 30 Prozent der historischen CO2-Emissionen zu verantworten, die EU 25, Russland und China je 8, Japan 4 und Indien 2 Prozent. Alle Industrieländer zusammen verursachten 77 der Emissionen, alle Entwicklungsländer 23 Prozent.4 Letztere pochen auf Nachholbedarf und sehen erstere in der Pflicht, dem Verursacherprinzip entsprechend den Schaden maßgeblich zu beheben.
Gewiss beruht der Reichtum in Industrieländern wie Deutschland auf Arbeit, Wissenschaft und Kreativität, aber eben auch auf den fossilen Brennstoffen, die seit zweihundert Jahren, ausgegraben, verbrannt und in der Atmosphäre abgelagert werden. Dies muss nun aufhören: 2050 soll Deutschland (ebenso die Europäische Union) treibhausgasneutral und die Nettoemissionen auf null gesenkt sein, was eine ungeheure nationale und europäische Aufgabe ist, aber eine noch größere auf globaler Ebene, die Deutschland und Europa mitgestalten müssen.
Folgt: Eine ebenso gigantische wie politisch heimatlose Aufgabe