Erderhitzung und Demokratie: Die Natur ist in höchster Gefahr, die Demokratie ebenso

Eine ebenso gigantische wie politisch heimatlose Aufgabe

Seit 1988, dem Jahr des erwähnten Zwischenberichts der Bundestags-Enquete-Kommission, der Schaffung des Weltklimarats und der ersten Resolution der UNO-Generalversammlung zum Klimawandel,5 haben sich die globalen CO2-Emissionen fast verdoppelt. Nicht nur das. Die Emissionen der letzten drei Jahrzehnte entsprechen denen der gesamten vorangegangenen Menschheitsgeschichte.

Weil bislang die tatsächlich anfallenden Umwelt- und Gesundheitskosten fossiler Energien – das Umweltbundesamt kalkuliert 180 Euro pro Tonne CO26 – nicht beglichen, sondern auf die lange Bank geschoben wurden, ist Treibhausgasneutralität nun eine ebenso gigantische wie politisch heimatlose Aufgabe. Anstatt ein Nischen- oder Wohlfühlthema zu sein, geht es um nicht weniger als um den radikalen und sofortigen Umbau der Wirtschaft und Landwirtschaft, der Städte und der Mobilität, des Wohnens, Essens und Reisens. Verzwickt, schmerzhaft und teuer wird es werden, aber lange nicht so wie weitere Lösungsverschleppung.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina „fordert deshalb nachdrücklich einen unmittelbaren Transformationsschub.“7 Wie anders können sonst die CO2-Emissionen in einem Jahrzehnt halbiert und in drei Jahrzehnten eliminiert werden? Es geht also nicht um das Justieren einiger Stellschrauben, sondern um die grundsätzliche Überprüfung des auf Wachstum und Export basierenden Wirtschaftssystems. Die Bepreisung von CO2 muss steuern, damit volkswirtschaftliche Ressourcen in Richtung Treibhausgasneutralität umgeschichtet werden. Milliarden Euro klimaschädlicher Subventionen müssen drastisch zurückgefahren,8 Milliarden Euro von klimaschonenden Investitionen drastisch hochgefahren – und das Ganze in ein globales Regelwerk eingebettet werden.

Den Ernst der Situation – Notstand ist keine Übertreibung – sowie das Ausmaß der Herausforderung würde man angesichts der von Regierungen gegenwärtig angebotenen Themen nicht vermuten. Diese sind Fragen wie Plastiktütenverbot, freies Zugfahren für Bundeswehrsoldaten, Kitaplätze, Grundsicherung für einen Teil der Rentner. Alles zweifellos vernünftige Maßnahmen, sofern sie Teile einer Gesamtstrategie zur Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wären. Und selbstverständlich ist Sozialverträglichkeit – wie überhaupt nationale und internationale Gerechtigkeit und Solidarität – die Grundvoraussetzung des erforderlichen umfassenden ökologischen Umbaus. Bloß dienen Fairness und Sozialstaatlichkeit bislang eher als Argumente gegen einen solchen. Das Gleiche gilt für Arbeitsplätze, den Kohleausstieg, die Überwindung des Verbrennungsmotors und der ausgeprägten Exportabhängigkeit der Wirtschaft.

Dabei muss, unter der Leitfrage, was es braucht, nicht was geht, alles auf eine grundsätzliche Vereinbarkeit mit Treibhausgasneutralität überprüft werden. Und weil die Erderhitzung ein globales Problem ist, muss die Antwort beinhalten, was es global braucht und was der Beitrag eines reichen Landes wie Deutschland zu sein hat.

Ein Rückblick ist hier angebracht. Seit 1960 wuchs in Deutschland:

  • Das jährlich Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt von $ 2.500 auf $ 48.000.9
  • Der jährliche Pro-Kopf-Stromverbrauch von knapp 1.600 auf über 7.000 Kilowattstunden.10
  • Die Pro-Kopf-Wohnfläche von unter 20 m² auf 50 m².11
  • Die Zahl der PKW von knapp 4,5 Millionen auf über 47 Millionen.12
  • Die Anzahl der jährlich von deutschen Flughäfen abreisenden Fluggäste von ein paar Tausenden auf 123 Millionen.13

Das phänomenale Wirtschaftswachstum führte zu breitem materiellem Wohlstand von historisch beispiellosem Ausmaß; aber eben auch zu einer noch nie dagewesenen Belastung der Natur. Dieses Jahr war Deutschlands Guthaben an Naturgütern, das bis Ende Dezember ausreichen sollte, schon Anfang Mai aufgebraucht.14

Es könnte sein, dass der sozialstaatlich demokratische Rahmen, der für das Wirtschaftswunder passgerecht war, den nun anstehenden ökologischen Umbau hemmt. Traditionell garantierte wirtschaftliches Wachstum Vollbeschäftigung, verhinderte oder entschärfte Verteilungskonflikte und legitimierte somit das Modell Deutschland (das Motto der Kanzlerpartei SPD im Bundestagswahlkampf 1976).

Das Wohlstandsversprechen bröckelte zunächst in den neuen Bundesländern, dann aber auch im wohlhabenden Westen mit dem Wachsen sowohl des Niedriglohnsektors als auch der oberen Einkünfte und der Bankenkrise vor zehn Jahren. Die Globalisierung und Automatisierung internationalisierte die Produktion von Waren und ihren Verkauf – zum Nachteil lokaler Interessen, aber zum Vorteil kostenbewusster Konsumenten. Billige Güter, am anderen Ende der Welt produziert, werden nun vom Lieferdienst ins Haus gebracht, aber die Innenstädte veröden. Die Flüchtlingskrise 2015 beschleunigte den politischen Vertrauensverlust und trieb jene, die sich als Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer sehen, in die Arme von chauvinistischen Populisten. Nicht zufällig, sondern in ihrem zur Schau getragenen Anti-Elitismus begründet, sind diese durchgängig – ob in Brasilien, den USA, Russland, Ungarn, Polen, Frankreich, Großbritannien, Italien, Deutschland oder anderswo – wissenschaftsfeindliche Leugner der menschengemachten Erderhitzung und engstirnige Nationalisten.

Was bedeutet es für die Zukunft – nicht nur der Natur, sondern auch der Demokratie –, wenn weiterhin Mögliches und Nötiges versäumt wird? Wie in den USA und in Großbritannien zu besichtigen, können Demokratien absichtlich durch das Aushebeln von Verfassungsinstitutionen geschwächt werden. Aber auch, wie in Deutschland, unabsichtlich durch Politikversagen.

Die Auswirkungen der Erderhitzung werden katastrophal sein, selbst wenn es gelingt, was unwahrscheinlich ist, sie auf 2° C zu beschränken. Viele Städte in Afrika, im Nahen Osten und in Südasien werden schon ab 2050 im Sommer tödlich heiß werden, die Arktis eisfrei. Weil wärmere Ozeane expandieren und der Eisschild in der Westantarktis abschmilzt, wie auch die Gletscher in Grönland und Island, werden die Küstenstädte der Welt überflutet.15 Die Versauerung der Ozeane sowie die Abnahme ihres Sauerstoffgehalts bedroht die marine Biodiversität und Ökosysteme und somit ihre Funktionen und Leistungen für den Menschen. Weil die Ernten von Mais, Sorghum (Hirse), Weizen, Erdnüssen und Maniok beträchtlich zurückgehen, wird die Ernährungsunsicherheit weltweit zunehmen. Es wird Millionen Klimaflüchtlinge geben, die vor Starkregen, Überschwemmungen, Dürren und extremer Hitze fliehen. Krankheiten werden sich ausbreiten, die Artenvielfalt dramatisch abnehmen und Korallenriffe größtenteils verschwinden. In hunderten von Seiten breitet der Weltklimarat das Schreckenspanorama der Erderhitzung und Verwüstung, der bedrohten Artenvielfalt und Nahrungssicherheit aus, wobei es die aseptische Sprache nicht vermag, die Bestürzung der Wissenschaftler zu verbergen.16 Eine detaillierte Analyse des United States Army War College warnt vor einer klimabedingt düsteren Zukunft, geprägt von Stromausfällen, Krankheiten, Durst, Hunger und Krieg, womöglich gar dem Kollaps des US-Militärs selbst. Alles in den nächsten zwei Jahrzehnten.17

Die – solange es Menschen auf der Erde gibt – noch nie dagewesenen und lebensbedrohenden ökologischen Krisen könnten zwar gelöst werden, aber, in der Formulierung des Weltklimarats, nur durch „schnelle und weitreichende Systemübergänge in Energie-, Land-, Stadt- und Infrastruktur (einschließlich Verkehr und Gebäude) sowie in Industriesystemen … die beispiellos bezüglich ihres Ausmaßes“ sind.18 Ähnlich der Weltrat für Biologische Vielfalt: “Die gegenwärtige globale Antwort auf den katastrophalen Verlust von biologischer Vielfalt ist epochal unzureichend. Fundamentale Änderungen sind notwendig, um die Natur zu regenerieren und zu schützen.”19

Panik angesichts dieser Entwicklungen ist nicht Alarmismus, Hysterie oder Moralisieren. Es geht schließlich um existenzielle Risiken, nicht zuletzt weil die Klimakatastrophe unweigerlich zu Kriegen führen wird. Ein nuklearer Schlagabtausch ist nicht auszuschließen. Die Fakten sprechen für sich und gebieten eine Art nicht-militärischer Generalmobilmachung. Was steht dagegen?

Demokratien sind lokal fokussiert, haben einen kurzen Zeithorizont und favorisieren kleine Schritte sowie graduelle Kurskorrekturen. Sie werden auch leicht durch Tagesprobleme abgelenkt und tun sich schwer mit der Verwirklichung langfristiger Gemeinschaftsaufgaben. Ihre implizite Maxime ist die Bewahrung des mühsam errungenen Status Quo. Behutsame Anpassungen sind akzeptabel, sogar erwartet und stabilisierend. Grundlegende Umstrukturierungen, selbst wenn ihr langfristiger Nutzen außer Frage steht, mobilisieren Opposition, weil sie konkrete Interessen tangieren und Investitionen, Renditen, Arbeitsplätze sowie Konsumgewohnheiten gefährden. Die Nutznießer hingegen, obwohl zahlenmäßig in der Mehrzahl, sind diffus, unorganisiert und – weil noch gar nicht geboren – ohne Stimme. Kurzfristige Interessen erschweren über den Tag hinausgehende Maßnahmen, egal ob diese längerfristige Wettbewerbsvorteile versprechen oder auf fundierten und alarmierenden Risikoanalysen basieren.

Der Gouverneur der Bank von England, Mark Carney, nennt den Klimawandel die „Tragödie des Horizonts,“ weil dessen katastrophale Wirkungen jenseits des normalen Zeitrahmens heutiger Akteure liegt. Die jetzige Generation tut sich schwer, Kosten zu übernehmen, deren Nutzen zukünftige Schadensbegrenzung ist, selbst wenn heutiges Handeln sogar wirtschaftlich sinnvoll wäre (”the more we invest with foresight, the less we will regret in hindsight“).20 Unvorstellbar, dass die Gefahren nicht bekannt sind, aber sie werden in einer Art von wunschdenkender Selbsthypnose mit Minischritten angegangen, so zum Beispiel mit der Senkung von Mehrwertsteuer auf Bahnfahrten, der geringfügigen Verteuerung von Inlandsflügen oder dem Kohleausstieg in zwanzig Jahren. Ausgangspunkt ist der Status Quo, also weder die existenzielle Bedrohung menschlichen Lebens, noch die Mobilisierung verfügbarer Ressourcen, um die Gefahr nachhaltig abzuwenden.

Mit Tagesproblemen beschäftigt, ist die Erderhitzung für die Mehrheit der Bevölkerung, Parteien, Regierungen, Unternehmen, Gewerkschaften und Verbände nur ein Thema von vielen. Die chronische Problemüberladung steht einer nüchternen Gewichtung entgegen und verstärkt die Gegenwartsverhaftung sowie die lokale Beschränkung der Politik. Allerdings wird die Verantwortung der Regierung, deren wichtigste Aufgabe es ist Schaden abzuwenden, nicht durch den Verweis auf fehlende Wählerunterstützung oder den hohen politischen Preis geschmälert. Andernfalls ist Artikel 20a des Grundgesetzes Makulatur: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“.

Folgt: Politikversagen grandiosen Ausmaßes – Neoliberale Markthörigkeit hat den Staat geschwächt