Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum in Davos
Am 23.01.2020 hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel beim 50. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums unter dem Titel „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World“ am 23.01.2020 in Davos eine Rede. Bei ihrem zwölften Auftritt im Schweizer Eintersportort setzte sie starke Akzente auf Klimakrise, Nachhaltigkeit und Artenvielfalt. Sie lobte den Plan der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden – das könne „eine Frage des Überlebens für den ganzen Kontinent“ werden. Der Kampf gegen den Klimawandel erfordere Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Luisa Neubauer von Fridays for Future hatte zuvor auf Merkel als Gegenspielerin von US-Präsident Donald Trump gesetzt. Solarify dokumentiert die Rede (und fügt Zwischentitel ein), die von manchen Beobachtern als „Anti-Trump-Rede“ interpretiert wurde.
Meine Damen und Herren, vor allem aber sehr geehrter Herr Prof. Schwab, Sie haben gesagt, dass ich das zwölfte Mal hier bin. Sie haben das 50. Mal das Vergnügen, bei diesem Ereignis zu sein – und dann auch nicht nur für einen Tag –, es vorzubereiten und Menschen zusammenzubringen. Dazu möchte ich Ihnen von ganzem Herzen gratulieren. Das ist etwas Einzigartiges, das hier in den Schweizer Bergen geschaffen wurde.
Das Forum hat sich ja selbst das ehrgeizige Ziel gesetzt, den Zustand der Welt zu verbessern, und hat dazu immer wieder Vertreter von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zusammengebracht – nicht nur in Davos, sondern auch an vielen anderen Stellen der Welt. Ich glaube, man kann feststellen, wenn wir unseren Blick einmal fünf Jahrzehnte zurückschweifen lassen, dass die Welt in der Tat auch besser geworden ist.
Wir waren vor 50 Jahren mitten im Kalten Krieg. Deutschland war geteilt. Für mich war es nicht absehbar, dass ich einmal hier stehen würde. Inzwischen liegt dieser Kalte Krieg schon 30 Jahre zurück. Aus einer bipolaren Welt hat sich eine multipolare Welt entwickelt, die, wie wir vor 30 Jahren noch nicht absehen konnten, aber auch eine Vielzahl von Problemen hat.
Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit 1970 mehr als verdoppelt. Die Zahl der Menschen, die unter extremer Armut leiden, ist gesunken, obwohl die Weltbevölkerung dramatisch gewachsen ist. Bei der Bekämpfung von Krankheiten – zum Beispiel von Polio – haben wir wirklich gute Fortschritte gemacht.
Klare Roadmap „Sustainable Development Goals“
All das wäre durch nationale Alleingänge niemals möglich gewesen, sondern für mich ist es das Ergebnis dessen, dass Menschen, Unternehmen und vor allen Dingen auch Staaten zusammengearbeitet haben. Das ist deshalb wichtig, wenngleich sich natürlich Jahr für Jahr neue Probleme stellen. Wer sich einmal den „Global Risk Report“ des Weltwirtschaftsforums anschaut, der kann sehr schön sehen, weil das ja auch immer farblich unterlegt ist, wie sich die Art der Probleme verändert hat. Ganz nach vorne gerückt sind in den letzten zehn Jahren Umweltprobleme. Das Thema Nachhaltigkeit und Kohärenz der Welt sind von größter Bedeutung. Deshalb ist auch Ihr Motto in diesem Jahr „Stakeholders for a Cohesive and Sustainable World“ sicherlich ein Motto, über das es sich zu diskutieren lohnt.
Wir reden ja viel darüber, dass der Weltgemeinschaft wenig zusammen gelingt. Aber immerhin ist es ihr gelungen, vor einigen Jahren die „Sustainable Development Goals“ für das Jahr 2030 zu entwickeln und sich darauf zu einigen. Mehr als 180 Länder haben das geschafft. Damit haben wir im Grunde für dieses neue Jahrzehnt auch eine völlig klare Roadmap, weil wir diese SDGs ja erreichen wollen. Allerdings war im vergangenen September auf dem UN-Gipfel, der eine erste Bilanz gezogen hat, klar, dass wir alle Hände voll zu tun haben und es mit dem bisherigen Tempo nicht schaffen werden, alle „Sustainable Development Goals“ wirklich zu erreichen.
UN-Plattform zum Thema „Ozeane“ – Klimaneutralität
Deshalb möchte ich mich auch dafür bedanken – Herr Schwab hat mir gerade davon erzählt –, dass eine Vereinbarung mit den Vereinten Nationen darüber getroffen wurde, eine Plattform zum Thema Ozeane einzurichten. Das ist der richtige Weg, weil wir die weltweiten Anstrengungen miteinander verlinken müssen, damit wir auch einen Überblick darüber gewinnen, wie schnell wir vorankommen.
Deshalb hat António Guterres als UN-Generalsekretär recht, wenn er sagt: Wir haben jetzt eine „Decade of Action“. Wir müssen handeln; und das zum Beispiel im Bereich der Artenvielfalt – die allermeisten Länder beschäftigen sich damit –, und vor allen Dingen – das spielt ja beim Weltwirtschaftsforum in diesem Jahr auch eine Riesenrolle – im Bereich des Klimaschutzes.
Die Frage der Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens könnte eine Frage des Überlebens auch unseres Kontinents sein. Deshalb gibt es Handlungsdruck, weil wir ja wissen, dass wir die Ziele von Paris – vor allen Dingen das Ziel, dafür zu sorgen, dass die Erderwärmung 1,5 Grad nicht überschreitet – mit den jetzigen Verpflichtungen nicht erreichen werden. Deshalb will ich mich in meinem ersten Teil auch darauf konzentrieren, was das bedeutet. Das bedeutet nämlich, dass die Welt gemeinsam handeln muss. – Das ist ein internationales Abkommen. Leider sind nicht mehr alle dabei, aber viele. – Und das bedeutet auch, dass jedes Land seinen Beitrag dazu leisten muss.
Klimaneutralität
Wenn wir auf Deutschland blicken, das Land, das ich hier vertrete, dann können wir nach 30 Jahren Deutscher Einheit sagen: Wir sind in einer Situation, in der es uns vergleichsweise gut geht. Wir hatten noch nie so wenige Arbeitslose. Wir geben viel Geld für Forschung und Entwicklung aus. Wir haben unsere Investitionen gesteigert. Aber das alles spiegelt ja nicht das wider, was uns in den nächsten 30 Jahren gelingen muss. Denn der Auftrag, bei einer Erderwärmung von weniger als 1,5 Grad gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung zu bleiben, bedeutet ja zum Beispiel für uns in Europa nicht mehr und nicht weniger, als dass wir bis 2050 klimaneutral sein müssen.
Klimaneutralität – die allermeisten Länder der Europäischen Union haben sich dazu verpflichtet. Die Kommissionspräsidentin war gestern hier und hat Ihnen den „Green Deal“ vorgestellt. Europa will der erste Kontinent sein, der CO2-frei, also emissionsfrei, lebt. Das sind natürlich Transformationen von gigantischem, historischem Ausmaß. Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen – die ersten Schritte sind wir schon gegangen – und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen, die natürlich auch wieder eine industrielle Produktion enthalten und die vor allem durch die Digitalisierung verändert worden sind. Wir haben ja eine zweite Riesentransformation zu bewältigen. Und wir hoffen, dass sich die Transformation zur CO2-Emissionsfreiheit mit der Digitalisierung verstärken wird und die Digitalisierung das erleichtern kann.
Ich möchte Ihnen einen kleinen Augenblick lang davon erzählen, was wir in Deutschland tun und was das auch mit Gesellschaften macht. Dieses Ziel der Klimaneutralität ist leicht aufgeschrieben. Dem verpflichtet man sich relativ leicht, wenn man in Städten lebt. Dort geht das etwas einfacher, als wenn man auf dem Land lebt und vielleicht Landwirtschaft betreibt oder lange Wege zur Arbeit zurückzulegen hat oder eine Windkraftanlage vor der Haustür hat.
Folgt: Atom- und Kohleausstieg