Aufrüstung und Erderwärmung – von Michael Müller, in MOVUM
– mit freundlicher Genehmigung des Autors –
Rendezvous mit dem Schicksal, das waren für US-Präsident Franklin D. Roosevelt die seltenen historischen Momente, in denen das frühzeitige Erkennen eines gesellschaftlichen Umbruchs, ein breites Bündnis entschlossen handelnder Akteure und die konkrete Vision für eine gute Zukunft zusammenkommen. Heute erleben wir erneut eine solche Schlüsselsituation, denn die Welt befindet sich am Rande des Friedens. Sie braucht neue Initiativen für eine soziale und ökologische Weltinnenpolitik. Sie braucht die Suche nach Gemeinsamkeit, statt die Konfrontation zu verschärfen. Doch dies wird zu wenig erkannt. Noch immer gibt es, vor allem in der Politik, aber auch in der alltäglichen Berichterstattung, einen eklatanten Widerspruch zwischen dem Wissen über die Zukunftsgefahren und dem alltäglichen Handeln. Die Lücke wird sogar größer.
Drei Jahrzehnte vertaner Chancen
Wir brauchen dringend neue gesellschaftliche Bündnisse für die konkrete Gestaltung einer sozialökologischen Transformation, für mehr Demokratie und für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik. Eine Schlüsselfrage ist die Kooperation von Umwelt- und Friedensbewegung. Sie müssen sich wieder verbünden, wie das schon einmal der Fall war. Die Herausforderungen machen das notwendig.
In den 1980er Jahren bildete der Kampf gegen die Atomkraft die Klammer für eine enge Zusammenarbeit zwischen Friedens- und Umweltbewegten. Damit wurden nicht nur wichtige Grundlagen für den Ausstieg aus der Atomkraft und die Energiewende gelegt, sondern auch für die Abrüstung von Atomraketen in Europa. Doch weitergehende Chancen, die sich nach dem Ende der in Ost und West geteilten Welt aufgetan haben, wurden vertan.
Zwar unterzeichneten 34 Staaten aus ganz Europa und Nordamerika 1990 die „Charta von Paris für ein neues Europa“, aber das Abkommen blieb folgenlos. Seit 2014 steigen die Rüstungsausgaben sogar weltweit wieder an und liegen heute höher als 1988. Dennoch soll die Vernichtungskapazität, der „Overkill“, weiter gesteigert werden. Allein auf die ersten zehn Staaten in der weltweiten Rangliste der Rüstungsausgaben entfallen drei Viertel der Gesamtausgaben. Deutschland, das heute schon auf Rang acht liegt, würde auf Platz vier aufsteigen, sollte das von der Bundesregierung versprochene Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär auszugeben, erreicht werden. Geld, das für wichtige Aufgaben der Friedenssicherung fehlen würde.
Auch die Vorschläge des „Erdgipfels“ für Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992 in Rio de Janeiro versandeten schnell wieder. Zwar wurde damals die UN-Klimarahmenkonvention verabschiedet, doch seitdem hat sich der Ausstoß von Treibhausgasen verdoppelt, obwohl er reduziert werden sollte, um die Atmosphäre nicht weiter zu schädigen.
Die schnelle und die langsame Selbstvernichtung
Heute geht es erneut um große Menschheitsfragen. Der Handlungsbedarf ist enorm. Umweltbewegung und Friedensbewegung müssen enger zusammenrücken, denn beide kämpfen gegen die reale Gefahr einer doppelten Selbstvernichtung der Menschheit, die denkbar geworden ist.
Zum einen werden jetzt, nach dem Ende des 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterschriebenen INF-Vertrages über das Verbot landgestützter Atomraketen zwischen 500 und 5.500 Kilometern Reichweite, weltweit neue Atomraketen stationiert – verharmlosend als „Modernisierung der Arsenale“ angekündigt. Die neuen Systeme haben eine noch höhere Präzision und Zerstörungskraft und können mit bis zu zehnfacher Schallgeschwindigkeit fliegen. Sie eröffnen die Gefahr eines schnellen Selbstmords. Doch noch ist nirgendwo bei den Regierungen der Wille erkennbar, zu einer neuen Friedens- und Entspannungspolitik zu kommen. Im Gegenteil, immer mehr Scharfmacher übernehmen das Ruder. Deshalb hat die Gemeinschaft der Atomwissenschaftler in den USA die „Weltuntergangsuhr“ dieses Jahr auf zwei Minuten vor zwölf vorgestellt.
Zum anderen bedeuten die ökologischen Gefahren, die durch die Globalisierung der Umweltzerstörung hervorgerufen wurden, dass die Menschheit immer schneller aus den anthropogenen Bedingungen unseres Erdsystems heraus wächst. Zu den Gefahren des langsamen Selbstmords zählt nicht nur der anthropogene Klimawandel, sondern auch das Überschreiten weiterer planetarer Grenzen, wie der in diesem Jahr schon Ende Juli erreichte Erdüberlastungstag zeigt. Die industrielle Wirtschaftsweise zerstört am Ende die natürlichen Lebensgrundlagen, auf die die Menschheit angewiesen ist. Zuerst trifft es dabei Menschen in armen Weltregionen, besonders in Afrika und den Küstenregionen Asiens.
Der vom Menschen verursachte Klimawandel wird die bestehenden Umweltkrisen wie Wasserknappheit, Dürren und Bodenzerstörung beschleunigen. Er wird zur Existenzfrage für viele Menschen und zu immer mehr umweltbedingter Migration führen. Steigender Meeresspiegel, Sturm- und Flutkatastrophen gefährden Hunderte Millionen Menschen in Flussdeltas, an den Küsten von China, Indonesien und Bangladesch. Ein Austrocknen der Regenwaldgebiete, das Ausbleiben des asiatischen Monsuns oder Verschiebungen im Jetstream mit bisher unbekannten Wetterlagen werden möglich.
Um das Jahr 2042 wird die globale Erwärmung 1,5 Grad Celsius erreichen, um 2065 herum dann die Zwei-Grad-Grenze. Schon der Unterschied von diesem halben Grad kann bedeuten, dass fast 150 Millionen Menschen den Zugang zu Trinkwasser verlieren. Für 400 Millionen Menschen sind die Ernährungsgrundlagen in Gefahr. Durch die Meereserwärmung drohen vor allem in den pazifischen Ländern Wetterextreme dramatisch zuzunehmen. Der Klimawandel wird zu einem weltweiten Sicherheitsrisiko.
Weltweites Sicherheitsrisiko Klimawandel
Dabei sind die schnelle und die langsame Selbstvernichtung eng miteinander verbunden. Auf der einen Seite würden die Folgen eines Atomkrieges gewaltige Störungen in den unteren Luftschichten auslösen, wodurch Sonnenstrahlung absorbiert und die Energiebilanz der Atmosphäre aus dem Gleichgewicht geraten würde. Das hätte neben dem eigentlichen Nuklearkrieg weitere katastrophale Folgen für das Leben auf der Erde. Auf der anderen Seite können die Verknappung von Wasser oder Erdöl ebenso wie die Folgen des Klimawandels oder die Zerstörung der Biodiversität gewaltige Konflikte und sogar Verteilungskriege auslösen, die zur weltweiten Bedrohung für den Frieden werden.
Frieden, unvollkommen allzumal, kann nicht allein als Abwesenheit von Krieg definiert werden, in der schnell zusammenwachsenden Welt schon gar nicht. Deshalb muss sich die Friedensbewegung nicht nur für ein konsequentes Abrüsten einsetzen, angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheiten und des Sterbens der Natur auf unserem Planeten darf sie auch nicht tatenlos zuschauen, wie sich Konfliktursachen aufbauen. Schon in wenigen Jahren können weitere 1,5 Milliarden Menschen, der Hyperkonsum reicher Schichten und die nachholende Industrialisierung zusammen mit dem Klimawandel, dem Kampf um knapp werdende Rohstoffe und dem Zusammenbruch landwirtschaftlicher Systeme eine negative Dynamik auslösen, deren Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen.
Gemeinsam oder gar nicht mehr
Wer den Frieden will, muss sich für den Frieden einsetzen. Wer sich um den Frieden sorgt, hat sogar die Pflicht sich einzumischen. Wer den Frieden will, muss die Eskalationsdynamik des Militärischen durchbrechen – nicht nur für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik und ein System der gemeinsamen Sicherheit, die wir dringend brauchen, sondern auch für ein neues Verständnis von Frieden mit dem Ziel, in Deutschland und Europa zu einer nachhaltigen Entwicklung zu kommen. Darum geht es.
So wie die Friedensbewegung mit ihrer Forderung nach Abrüstung auf den massiven Widerstand wirtschaftlicher Interessen und ideologischer Restauration trifft, so muss sich auch die Umweltbewegung gegen technische Überheblichkeit und wirtschaftliche Verwertungszwänge durchsetzen. Beides gehört zusammen. Ein neues Denken ist notwendig – für eine gemeinsame Sicherheit, ein gemeinsames Überleben und eine gemeinsame Zukunft. Etwas anderes wird es nicht geben.
Der Text erschien zuerst im Debatten-Magazin MOVUM, herausgegeben vom Deutschen Naturschutzring und anderen einschlägigen Organisationen, u.a. die NaturFreunde.
Michael Müller war Umweltstaatssekretär (SPD), ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde und Kuratoriumsmitglied von klimareporter°