Inventur des fossilen Zeitalters
Der Klimawandel erfordert, dass wir uns von Erdöl und Kohle verabschieden. Doch unsere Gesellschaft, speziell unser Ideal von Freiheit und Wohlstand, ist in ungeahntem Maße von den fossilen Rohstoffen geprägt. Wie stark diese Abhängigkeit ist und welche Wege es gibt, davon loszukommen, untersuchen Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin. Jeannette Goddar beschrieb am 10.03.2020 die Arbeit des MPI und mehr auf der Internetseite der Max-Planck-Gesellschaft.
Es gibt Tage in Deutschland, da läuft die Energiewende auf allen Kanälen. Zum Beispiel, wenn, wie an diesem Tag im Januar, die Bundeskanzlerin am Mittag mit den Spitzen der Autobranche über die Zeit nach dem Verbrennungsmotor berät und am Abend mit den Ministerpräsidenten der vier Kohle-Länder im Kanzleramt zum Kohlegipfel zusammensitzt. Beides Treffen, die deutlich machen: Es geht um viel mehr als Öl und Kohle und Milliarden Euro. Nämlich um Zigtausende Arbeitsplätze, Strukturpolitik, das ohnehin sensible Verhältnis zwischen Ost- und West und um tief verankerte Traditionen.
Fragt man Benjamin Steininger, bestimmen fossile Rohstoffe unsere Welt noch mehr, als es an einem solchen Tag erscheint: „Wir leben in Städten, die nur motorisiert zu erreichen sind, tragen Goretex und Nylon, ernähren uns mithilfe von Kunstdünger, sind auf Medikamente angewiesen – alles Dinge, die auf Erdöl, Gas und Steinkohle basieren. Konkret wie abstrakt ist unser Lebensstil auf eine Weise von fossilen Rohstoffen geprägt, die wir noch kaum durchdrungen haben.“
Sogar eine politisch-gesellschaftliche Errungenschaft wie die Abschaffung der Arbeit von Kindern und rechtlosen Menschen, ergänzt Steininger, sei erst möglich geworden, als und weil „fossile Sklaven“ in Form von Maschinen ihre Arbeit übernahmen. Auch für die Moderne grundlegende Konzepte wie die Freiheit des Einzelnen, Wohlstand und Fortschritt haben sich gemeinsam mit dem technischen System der Nutzung fossiler Energieträger entwickelt.
Nun ist das kein Appell, an der massenhaften Verbrennung klimaschädlicher Rohstoffe festzuhalten. Sondern einer, zu erkennen, dass es mit dem Umstieg auf den Elektromotor und dem Abschied von Plastiktüten nicht getan sein wird. Steininger fordert – und fördert – eine Befassung mit all dem immateriellen Erbe der fossilen Moderne, das bisher kaum im Fokus ist: „Seit zwei Jahrhunderten verschieben fossile Rohstoffe die Grenzen des technologisch Mach- und Erreichbaren, und damit unser Verständnis von Wachstum, von Freiheit, unser Begehren. Ein Haus, in dem man sich 200 Jahre eingerichtet hat, kann man nicht einfach so verlassen. Es braucht eine Inventur.“
Mit einer solchen Inventur ist am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte eine kleinere Gruppe innerhalb einer größeren befasst. Zu der kleineren gehört außer dem Medien- und Kulturtheoretiker Benjamin Steininger die Ethnologin Gretchen Bakke und der Historiker Helge Wendt. Die größere heißt „Wissen im und über das Anthropozän“ und nimmt den von Menschen geprägten erdgeschichtlichen Abschnitt in einem breiten Bogen in den Blick. Dabei kooperiert sie mit dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin, das seit 2012 mit Veranstaltungsreihen, Publikationen und Ausstellungen an Darstellung und Aufarbeitung all der Prozesse arbeitet, mit denen Menschen den Planeten machtvoll verändern. Das Max-Planck-Institut lädt dazu Wissenschaftler ein, arbeitet an einem Anthropozän-Curriculum und an einer „transdisziplinären Wissens- und Bildungskultur“ mit und war zuletzt 2019 – auch mit Benjamin Steininger – an einem mehrmonatigen Veranstaltungs- und Forschungsprojekt am Mississippi beteiligt.
Am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (gegründet 1994) werden wissenschaftliches Denken und Handeln als historische Phänomene analysiert. Auf der Grundlage einer historischen Epistemologie wird erforscht, wie sich in der jahrhundertelangen Wechselwirkung zwischen den Wissenschaften und den sie umgebenden Kulturen neue Kategorien des Denkens, des Beweisens und der Erfahrung herausgebildet haben. Epochen- und raumübergreifende vergleichende Studien untersuchen dabei, unter welchen historischen Voraussetzungen wissenschaftliche Kultur und Wissenschaft als eine Kultur entstanden sind. Die einzelnen Forschungsprojekte umfassen mehrere Jahrtausende, sie beziehen sich auf die Kulturen des Westens und des Ostens, des Nordens und des Südens, und auf die unterschiedlichsten Disziplinen, von der babylonischen Mathematik bis zur heutigen Genetik, von der Naturgeschichte der Renaissance bis zu den Anfängen der Quantenmechanik.
Folgt: Erste Energiewende im Blick