von Peter Hennicke
1. Corona- und Klimakrise: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die Verbundenheit der Menschheit, die wechselseitige Abhängigkeit aller Länder und die ökonomische Verwundbarkeit der globalisierten Weltwirtschaft hat die Corona-Pandemie wie keine andere Krise nach dem 2. Weltkrieg ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Insbesondere die weltweite rapide Ausbreitung und die unmittelbare Betroffenheit potenziell jedes Menschen auf diesem Planeten hat die „Eine Welt“ schon jetzt grundlegend verändert und wird sie weiter verändern. Der Club of Rome schreibt:
„Es ist an der Zeit, unsere Ängste zu überwinden, Hoffnung aufzubauen und Maßnahmen zu ergreifen, um auf die Krise der menschlichen Gesundheit, der Wirtschaft, des Klimas und der biologischen Vielfalt mit Lösungen zu reagieren, die langfristig widerstandsfähige Gesellschaften aufbauen. […] Die Krisenprogramme sollten nicht als Freikarten konzipiert werden sondern starke wirtschaftliche Anreize und Bedingungen für Unternehmen und Branchen beinhalten, zu einem kohlenstoffarmen Kreislaufgeschäftsmodell überzugehen und in Natur und Menschen zu investieren. Jetzt ist der Moment gekommen, fossile Brennstoffe aus dem Verkehr zu ziehen. Ebenso wichtig ist es, dass Klima und biologische Vielfalt im Jahr 2020 und danach oben auf der Tagesordnung stehen und dass die Staats- und Regierungschefs jede Gelegenheit nutzen, um an diesen Fronten Schritt zu halten.“ (Club of Rome 2020, eigene Übersetzung)
Neben systembedingten Gemeinsamkeiten gibt es hinsichtlich der Ursachen und Folgen des Klimawandels grundlegende Unterschiede zur Corona-Pandemie, die es umso dringlicher, aber auch gesellschaftspolitisch anspruchsvoller machen, die demonstrierte schnelle politische Handlungsfähigkeit, die enormen staatlichen Stimulus-Programme und die hohe gesellschaftliche Zustimmung bei der Bekämpfung der Pandemie mit der Eindämmung des Klimawandels zu verbinden:
Der Zeitfaktor der Maßnahmen zur Krisenbekämpfung ist von entscheidender Bedeutung. Derzeit ist davon auszugehen, dass zwischen dem Beginn der ökonomischen Krisenfolgen der Corona-Pandemie und der wirtschaftlichen Erholung je nach Annahmen eine Zeitspanne von einigen Monaten und mehr als einem Jahr liegen könnte (vgl. SVR Sondervotum 2020). Ganz anders beim Klimaschutz: Wegen der Zeitverzögerung zwischen der Emissionen von Treibhausgasen (THG) und der globalen Temperaturerhöhung (bei CO2 mindestens ein Jahrzehnt) (vgl. IPCC 2014) sowie wegen der Jahrzehnte langen Investitionszyklen etwa bei Kraftwerken, Gebäuden und Verkehrsinfrastrukturen (sog. “Lock-in-Effekte“), dauert ein klimawirksames und wirtschafts- sowie sozialverträgliches Umsteuern zu einer weitgehend dekarbonsierten Wirtschaft einige Jahrzehnte. Am bedrohlichsten sind mögliche irreversible und sich selbstverstärkende Kippmomente („tipping points“) wie etwa das Abschmelzen der Polkappen, deren Wahrscheinlichkeit bei einem globalen Temperaturanstieg von über 1,5° C zunimmt (vgl. Lenton et al. 2019). Auch aus diesem Grund sprechen Klimaexperten von einem „Klima-Notstand“ und der Club of Rome (vgl. Club of Rome 2020) in Hinblick auf die multiplen ökologischen Krisen von einem „Planetarischen Notstand“ („Planetary Emergency“). Weil eine weltweite hochambitionierte Bekämpfung des Klimawandels keinen Aufschub mehr erlaubt, hat auch das Europäische Parlament den Klimanotstand erklärt (vgl. Europäisches Parlament 2019).
Allerdings kann sich ambitionierte Klimaschutzpolitik nicht auf die gesellschaftliche Akzeptanz infolge unmittelbarer individueller Betroffenheit durch eine Pandemie stützen, sondern muss sich auf antizipierte wahrscheinliche Betroffenheit berufen, die nur mithilfe bestmöglicher Wissenschaft, aufbauend auf Szenarien und Wahrscheinlichkeitsaussagen, abstrakt veranschaulicht werden kann.
Eine „Heißzeit“ („Hothouse Earth“) (vgl. Steffen et al. 2018) ist bei weiter ungebremstem Klimawandel sehr wahrscheinlich und mit katastrophalen, unvorstellbaren Folgen verbunden. Aber diese zukünftigen Katastrophen, z.B. extreme Hitzewellen, enormer Meeresspiegelanstieg, drastische Wetteranomalien mit möglicherweise Millionen von Toten und Klimaflüchtlingen, scheinen noch weit weg und sind aus heutiger Sicht „nur“ wahrscheinlich. Dass aktuell im April 2020 z.B. selbst im reichen New York in einem zum Krankenhaus umgerüsteten Messezentrum viele Menschen wegen fehlender Beatmungsgeräte an COVID-19 sterben, ist dagegen zum Greifen nah (vgl. Frankfurter Rundschau 30.03.2020). Faktenbasierte, interdisziplinäre und verantwortungsbewusste wissenschaftliche Analysen zu den Folgen des Nichthandels, aber auch zu den Herausforderungen und enormen ökonomischen Chancen ambitionierter Klimaschutzpolitik sind daher für die gesellschaftliche Akzeptanz für drastische Maßnahmen von herausragender Bedeutung – nicht zuletzt deshalb, um regierende Klimaleugner in die Schranken zu verweisen.
Darüber hinaus erscheint die Corona-Pandemie, obwohl es Warnungen der Wissenschaft seit vielen Jahren (vgl. Scientific American 2020; WWF 2020) gibt, im Vergleich zum schleichenden Klimawandel wie ein unerwartetes abruptes Naturereignis bei dem es weder konkrete Verursacher, noch direkte ökonomische Profiteure, aber irgendwann auch eine Nach-Corona-Zeit gibt. Ganz anders beim Klimawandel und bei der Klimaschutzpolitik: Der Klimawandel hat einen extrem langen Bremsweg und er geht buchstäblich über Jahrhunderte weiter, selbst wenn es hypothetisch gelänge, abrupt die Emissionen der Treibhausgase auf Null zu reduzieren. Die dringend notwendige Klimapolitik zur Begrenzung des Risikopotentials impliziert einen an CO2-Reduktionszielen orientierten und staatlich forcierten ökonomischen Strukturwandel mit ökonomischen Gewinnern und Verlierern, den es in der Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus in dieser Form noch nie gegeben hat.
Der Klimawandel und seine möglichen katastrophalen Auswirkungen werden seit Jahrzehnten durch eine enorme Vielfalt von Szenarien übereinstimmend mit wachsender Dringlichkeit, aber enttäuschender politischer Resonanz vorhergesagt. Das liegt auch daran, dass die grundlegende Strategie für den Klimaschutz, die fast vollständige Dekarbonisierung der Energieversorgung für Produktionsprozesse, Fahrzeuge, Gebäude, Infrastrukturen und Geräte die radikalste sozial-ökologische Transformation der Industriegeschichte bedeutet, die von den bisherigen Profiteuren des fossil-industriellen Komplexes (insbesondere die Kohle-, Öl- und Erdgaskonzerne und Eigentümerländer), mit allen Mitteln bekämpft wird.
Im Vergleich zu dieser Machtposition waren die zukünftigen wirtschaftlichen Gewinner forcierter Klimaschutzpolitik z.B. die Hersteller von Techniken für erneuerbare Energien und Energieeffizienz viele Jahre lang ökonomisch schwach und als Lobby wenig einflussreich, sodass der fossil-industrielle Komplex die weltweite Klimaschutzpolitik um Jahrzehnte verzögern konnte. Obwohl spätestens seit dem Stern-Report (Stern 2007) die positive gesamtwirtschaftliche Bilanz (Marktchancen für Zukunftsbranchen, (Netto)Beschäftigungszuwachs, massive Reduktion von Schadenskosten) eines forcierten Klimaschutzes nachgewiesen ist, haben die vorherrschende marktradikale Wirtschaftsdoktrin und die darauf gestützte mutlose Politik („weniger Staat, mehr Markt“) eine vorsorgende sozial-ökologische Industrie- und Dienstleistungspolitik zu Gunsten eines ambitionierten Klimaschutzes lange Zeit unmöglich gemacht. Dieser dramatische Zeitverlust muss jetzt schnellstens aufgeholt werden. Deshalb ist die von vielen Experten geforderte gleichzeitige Bekämpfung der ökonomischen Folgeprobleme der Pandemie integriert mit weltweiten Klimaschutzprogrammen essentiell wichtig.
Um die gesellschaftliche Akzeptanz für die notwendig forcierte Klimaschutzpolitik zu fördern, ist eine offensive Kommunikationsstrategie der Bundesregierung und eine zumindest ideelle Unterstützung sozialer Bewegungen für mehr Klimaschutz (wie etwa „Fridays for Future“ oder „Scientists for Future“) notwendig. Der Zeitverlust kann aufgeholt werden, wenn das positive Narrativ des Klimaschutzes, eine risikoärmere, nachhaltigere und enkeltaugliche sozioökonomische Entwicklung, deutlicher kommuniziert würde. Klimaschutz ist einem weltweiten Generationenvertrag vergleichbar: Die heutige Generation finanziert und ermöglicht für Kinder, Enkel und alle zukünftigen Generationen eine Welt ohne Kriege um Öl und ohne katastrophale Klimaschäden.
Folgt: Vorübergehend sinkende Treibhausgase, aber der Klimanotstand bleibt