Tschernobyl–Jahrestag: Mehr als eine Milliarde staatliche Kosten allein in Deutschland

Ersatzenergie Wasserstoff

Am 26.04.2020 – vor 34 Jahren – explodierte Block 4 des Atomreaktors von Tschernobyl – der schwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Atomenergienutzung. Erst der GAU von Fukushima am 11.03.2011 hat sich ähnlich in das Gedächtnis eingebrannt. Deutschland beschloss danach den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie – Tschernobyl als Symbol für die unkalkulierbaren Risiken der Atomenergie. Was nämlich kaum jemand weiß: Einer neuen Berechnung des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft im Auftrag von Greenpeace Energy folgend haben die Auswirkungen allerdings den deutschen Staat bis heute mehr als eine Milliarde Euro gekostet. Und: „pünktlich“ zum Jubiläum verursachen Waldbrände in der nach wie vor kontaminierten und eigentlich unbetretbaren Sperrzone neue Aufmerksamkeit.

Anti-Atom-Endlager-Berichts-Demo vor BMBF – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft für Solarify

Auch 34 Jahre nach der Katastrophe belasten laut FÖS jährliche Ausgaben in zweistelliger Millionenhöhe den Bundeshaushalt. Weltweit hat der Atomunfall in der Ukraine Folgekosten von umgerechnet 646 Milliarden Euro verursacht. „Tschernobyl ist auch nach Jahrzehnten noch immer eine teure Hypothek, welche die ökologischen und finanziellen Risiken der Atomkraft offenlegt“, sagt Sönke Tangermann, Vorstand von Greenpeace Energy.

Für Deutschland setzen sich die bisher entstandenen Kosten aus ganz verschiedenen Komponenten zusammen:

  • So wurde hierzulande in der Folge des Reaktorunglücks ein nationales Messsystem zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) installiert, das bisher mit Kosten von 312 Millionen Euro zu Buche schlug.
  • Außerdem zahlte der Staat 332 Millionen Euro Entschädigungen an die Land- und Jagdwirtschaft, deren Erzeugnisse radioaktiv kontaminiert wurden.
  • Weitere 59 Millionen Euro flossen als Ausgleich an Molkereibetriebe und in die Endlagerung verstrahlter Molke.
  • Einen weiteren großen Anteil machten Hilfen für die Katastrophenbewältigung in der Ukraine aus – wie etwa den Bau einer Schutzhülle („Sarkophag“) um den havarierten Reaktor.
  • Deutschland beteiligte sich direkt an diesen Maßnahmen mit 156 Millionen Euro und über seinen EU-Anteil noch einmal mit 265 Millionen Euro.

Einige dieser Kosten – wie das IMIS-Messsystem und die Beteiligung an den Schutzmaßnahmen in der Ukraine – belasten auch weiterhin den deutschen Haushalt, allein 2020 mit etwa 43 Millionen Euro. „Angesichts der aktuellen Waldbrände im Umfeld des ukrainischen Unfallreaktors und der dadurch möglichen Verbreitung radioaktiver Teilchen dürften diese Kosten nun sogar noch ansteigen“, sagt Sönke Tangermann. Laut Medienberichten will die Bundesregierung angesichts der derzeitigen Lage zum Beispiel Spezialmaterial im Wert von 230.000 Euro zur Verfügung stellen.

Wie schwer der Super-GAU noch Jahrzehnte später wiegt, zeigen die derzeitigen Waldbrände. Anfang April begann es in den Wäldern um Tschernobyl zu brennen. Das aktuelle Fiasko lässt es sich nur im Zusammenhang mit den schicksalhaften Tagen im April 1986 betrachten: Was die Feuer in

der Ukraine so gefährlich macht, sind die kontaminierten Böden. „Bei Bränden kann eine erhebliche Menge Radioaktivität freigesetzt werden“, so Heinz Smital, Greenpeace-Experte für Atomenergie.

Bis zum 26. April 1986 war Tschernobyl lediglich der Name einer kleinen Stadt im Norden der Ukraine und nur wenigen ein Begriff: In den Siebzigern ging nahe des Ortes der erste Kernreaktor des Landes ans Netz. Seit diesem Tag im Frühjahr vor 34 Jahren ist das anders: Eine Explosion im Block vier des damals sowjetischen Atomkraftwerks führte zum Super-GAU, den bislang beispiellosen “größten anzunehmenden Unfall”. Bis heute ist Tschernobyl synonym mit der schwersten Katastrophe in der zivilen Nutzung der Atomkraft. Wie Hiroshima, Nagasaki oder Fukushima ist der Name für immer verbunden mit nuklearem Schrecken.

Die Explosion des Reaktors schleuderte damals eine radioaktive Wolke in die Atmosphäre, die über ganz Europa zog. 150.000 Quadratkilometer Land – eine Fläche größer als Griechenland – wurden so stark radioaktiv kontaminiert, dass rund 350.000 Menschen umgesiedelt wurden oder flüchteten. Insgesamt waren über acht Millionen Menschen betroffen – und die Folgen prägen die Region bis heute.

Rauchfahne bis Kiew

Wie sehr die Katastrophe nachwirkt, zeigen die nach wie vor nicht vollständig gelöschten Waldbrände im Sperrgebiet um die Atomruine. Noch nie haben Feuer dort so gewütet wie in diesem Jahr – eine Folge der derzeitigen Trockenheit. 30 Kilometer ringsum die Atomruine von Tschernobyl dürfen Menschen nach wie vor nur mit Sondergenehmigung hinein, aus gutem Grund, wie die jüngsten Entwicklungen erneut deutlich vor Augen führen. Die Böden um Tschernobyl sind nach wie vor kontaminiert, und durch die Feuer geht die Belastung über die Grenzen der Sperrzone hinaus. Radioaktiver Staub wird aufgewirbelt, der Rauch – und mit ihm nachweislich radioaktives Cäsium-137 – zog bis ins über 100 Kilometer entfernte Kiew. Löscharbeiten sind aufgrund der Strahlung mühsam und gefährlich.

34 Jahre nach dem Super-GAU ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl noch nicht zu Ende. Das gelte es im Gedächtnis zu behalten, wenn Atomkraft wieder einmal von Lobbyisten als klimafreundlichere Alternative zu fossilen Energien ins Spiel gebracht werde. „Das ist eine menschenfeindliche und eine sehr kostspielige Technologie – die sich zudem hinter Stacheldraht verbirgt“, so Smital. Einen „Rückfall in alte Atomträume“ dürfe es deshalb nicht geben.

Deutschlands Atomproblem

Urantransporte, wie sie derzeit erneut aus dem niedersächsischen Gronau nach Russland gehen, führen auch hier zu Lande vor Augen, dass die Altlast Atomkraft weiterhin ein Problem ohne Lösung ist. Die Firma Urenco schickt tonnenweise abgereichertes Uran zur erneuten Anreicherung in russische Aufbereitungsanlagen. „Es handelt sich hier nicht um einen Wertstoff zur Weiterverwendung, wie die Bundesregierung glauben machen will“, sagt Smital, „sondern in Wahrheit um Atommüll, dessen Export verboten ist.“ Ein Verschiebespiel, mit dem Urenco die Crux der Endlagerung zu umgehen versucht – denn die müsste laut Gesetz in Deutschland stattfinden.

Die Brände in der Ukraine sind ein Weckruf für eine Abkehr von der Atomenergie. Die ist auch in Deutschland noch nicht vollzogen: Erst wenn die noch bestehenden Atomfabriken in Lingen und Gronau endlich dichtmachen, ist der deutsche Atomausstieg nicht bloß beschlossen, sondern vollendet.

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