Agora-Stellungnahme zur Anhörung im Wirtschaftsausschuss
Die Klima- und Energie-Denkfabrik Agora Energiewende hat für die Experten-Anhörung im Bundestagswirtschaftsausschuss am 27.05.2020 eine ausführliche Ausarbeitung erstellt. Ausgehend von der Befürchtung, die Corona-Pandemie sorge für die wohl schwersten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression in den 30er-Jahren, gilt es laut Agora-Direktor Patrick Graichen der Wirtschaft aus dem Tal wieder herauszuhelfen. Die Aufgabe werde in vielerlei Hinsicht der ähneln, die hinter dem New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren stand.
Auch damals sei es darum gegangen, das Land strukturell zu modernisieren und resilient gegen neue Schocks zu machen. Roosevelts Politik sei in drei Phasen eingeteilt worden: Relief, das heißt Maßnahmen zur Nothilfe, Recovery, das heißt Programme zur Belebung der Wirtschaft, und Reform, das heißt tief greifende Strukturreformen, die im New Deal mündeten.
„Es ist sinnvoll, den Roosevelt-Dreiklang Relief, Recovery, Reform auch jetzt als handlungsleitend zu betrachten:
- Die Relief-Maßnahmen zur Milderung der ökonomischen Folgen der Corona-Krise laufen derzeit an. Der Bundestag hat im März 2020 als „Schutzschild“ für die deutsche Wirtschaft ein Maßnahmenprogramm in Höhe von über 350 Milliarden Euro beschlossen, das unter anderem Liquiditätshilfen, Bürgschafts- und Zuschuss-Programme enthält.
- Die Recovery-Maßnahmen stehen jetzt zur Diskussion. Die Bundesregierung plant im Juni ein Wachstums- und Konjunkturpaket, das die Wirtschaft aus der Krise helfen soll. Die Lehren aus den Konjunkturprogrammen I und II in der Krise 2008/09 sollten dabei beachtet werden.
- Die Reform-Maßnahmen sind langfristig angelegt und zielen auf den strukturellen Wandel. Sie sollten alle Bereiche betreffen, die die Wirtschaft und Gesellschaft vor weiteren Schocks schützen und resilienter machen.
Klimaneutralität als Leitmotiv für das Wachstumsprogramm
Teilweise wird argumentiert, man solle klimapolitische Erwägungen bei der Formulierung eines Konjunkturprogrammes hinten anstellen. Es gehe jetzt primär darum, der Wirtschaft schnell wieder auf die Beine zu helfen. Danach könne wieder Klimapolitik betrieben werden. Diese Argumentation verkennt, dass die Klima-Herausforderung zwar nicht so plötzlich eintrifft, aber ebenso akut ist wie die Corona-Herausforderung. Ökonomisch ist es geboten, ohnehin anstehende Investitionen jetzt zeitlich vorzuziehen – und eine ganze Reihe klimapolitischer Maßnahmen sind geeignet, kurzfristig zur Erholung der Wirtschaft beizutragen.
Ein gezieltes Konjunktur- und Investitionsprogramm kann und muss aus drei Gründen in Richtung Klimaschutz und Zukunftsfähigkeit ausgerichtet werden:
- Langfristige Wirkung: Konjunkturprogramme wirken auf Jahre, oftmals auf Jahrzehnte. Corona-Krise und Klima-Herausforderung können nicht nacheinander beantwortet werden, weil fast alle Investitionsgüter, deren Beschaffung ein Konjunkturprogramm anreizt, auch eine Klimawirkung haben – und zwar infolge ihrer langen Lebensdauer jahrzehntelang. So können etwa Abwrackprämien zur Ankurbelung des Pkw-Verkaufs eine weitere Generation Autos mit hohen Verbräuchen auf den Markt bringen, während bessere Alternativen die Transformation im Automobilsektor und die Verkehrswende zugleich beschleunigen.
- Richtungswirkung: Konjunkturprogramme setzen Anreize für Investitionen und haben damit immer eine Lenkungswirkung beziehungsweise eine Richtung. Denn jedes Konjunkturprogramm impliziert Entscheidungen darüber, welche Investitionen angereizt werden und welche nicht. Ein Konjunktur- und Investitionsprogramm, das ein „weiter so“ propagiert, scheint richtungsfrei zu sein. De facto schreibt es die bestehende Industriestruktur fest, die in vielen Fällen jedoch mit Blick auf die Klima-Herausforderung nicht zukunftsfest ist. Wir ziehen durch die Corona-Krise die Investitionsmittel von morgen vor – also müssen wir auch sicherstellen, dass wir die Investitionsentscheidungen von morgen vorziehen.
- European Green Deal: Investitionsanreize sind besonders wirksam, wenn sie im europäischen Kontext erfolgen. Mit dem Beschluss, bis 2050 klimaneutral zu werden und dem European Green Deal, zu dem sich alle europäischen Institutionen (Europäischer Rat, EU-Parlament und EU-Kommission) im Dezember 2019 bekannt haben, ist der Orientierungsrahmen für die EU-Wirtschaft beschrieben. Auch Deutschland hat sich mit dem im November 2019 in Bundestag und Bundesrat beschlossenen Klimaschutzgesetz dieser Strategie angeschlossen: Bis 2050 soll Deutschland eine klimaneutrale Wirtschaft haben. Bis 2030 bedeutet dies auf europäischer Ebene eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 50 bis 55 Prozent unter das Niveau von 1990. Dies ergibt die naheliegende gemeinsame europäische Richtung für die nun nötigen nationalen und europäischen Konjunkturmaßnahmen. Folgerichtig hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem für den EU Green Deal zuständigen Vize-Präsident Frans Timmermans auch die Federführung für das EU-Wachstumsprogramm als Antwort auf die Corona-Krise übertragen.
Der „Doppelte Booster“: 100 Milliarden für Wachstum und Zukunft
Agora Energiewende und Agora Verkehrswende schlagen daher mit dem Doppelten Booster (siehe: solarify.eu/2020/05/11/313-100-milliarden-euro-um-wirtschaftliche-erholung-und-klimaschutz-zu-verbinden/ ein auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise zugeschnittenes Recovery-Programm vor, das ein umfassenderes Reform-Programm für die Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität einleitet. Die Unterscheidung zwischen Maßnahmen zur schnellen Belebung der Wirtschaft (Recovery) auf der einen und tief greifenden transformativen Strukturentscheidungen (Reform) auf der anderen Seite gewinnt in diesem Sinne an analytischem Wert, wenn man die Schnittmengen betrachtet: Investitionen, die kurzfristig aus der Krise helfen und gleichzeitig transformative Ziele wie die Klimaneutralität bis spätestens 2050 erreichbar machen. Im Idealfall befindet sich das Konjunkturpaket vollständig in dieser Schnittmenge.
Der Doppelte Booster ist ein 100-Milliarden-Programm für Wachstum und Klimaschutz. Er wird im Anhang in seinen Einzelteilen dargestellt, die Abbildung auf dieser Seite fasst die Kernelemente und ihre Volumina zusammen. Der Schwerpunkt dieses Recovery-Programms liegt auf schnell wirksamen Investitionen in allen Industriesektoren, die gleichzeitig einen langfristigen Zukunftseffekt erzielen. Die Corona-Krise hat starke Auswirkungen auf alle Sektoren und definiert somit auch einen neuen Ausgangspunkt für die Chancen und die Umsetzung der Maßnahmen für eine nachhaltige und zukunftssichere Wirtschaft.
- Der Doppelte Booster fokussiert in jedem Sektor auf Investitionen in die Technologien, die im Zuge der Klimaherausforderung in Deutschland, Europa und weltweit großem Maßstab gebraucht werden. Ein Nachfrage- und Industrialisierungsschub in diesen Bereichen generiert sowohl Wachstum und Beschäftigung als auch Wettbewerbs- und Technologievorsprünge für die heimische Wirtschaft. Beispiele für diese Technologien sind im Industriebereich etwa Wasserstoff-Anwendungen und elektrische Steamcracker, in der Bauwirtschaft industrielle Gebäudesanierung, Wärmepumpen und grüne Fernwärme, in der Energiewirtschaft Wind- und Solaranlagen, intelligente Netze und Speicher, und im Verkehrssektor die Elektromobilität und neue Mobilitätstechnologien.
- Zur Kaufkraftstärkung fokussiert der Doppelte Booster auf eine Strompreissenkung statt auf andere Maßnahmen wie etwa eine Einkommensteuersenkung. Denn durch einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt zur EEG-Umlage ist es möglich, sozial ausgewogen die Bürgerinnen und Bürger sowie klein- und mittelständische zu entlasten – und gleichzeitig Investitionen in klimaschonende Technologien anzureizen.
- Dritter Schwerpunkt des Doppelten Boosters sind Investitionen in Europäische Projekte. Mit dem European Green Deal hat die EU die Richtung der nächsten Jahre vorgegeben: Klimaneutralität. Ein gemeinsames europäisches Vorgehen bei zentralen Technologien, wie z.B. Erneuerbaren Energien, Wasserstoffwirtschaft und Gebäudesanierung, bringt ganz Europa wirtschaftlich voran und investiert in die Zukunft. Das hilft auch und gerade der deutschen Wirtschaft.
Fazit: Jahrhundertchance oder Jahrhundertfehler?
Es sei nicht sinnvoll, Milliarden von Euro zu investieren, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, wenn wir dabei in alte, umweltschädliche Gewohnheiten zurückfallen – so die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen Ende April 2020 in einer Video-Botschaft. Die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie müsse zu einem besseren Zustand als vorher führen („bounce back better“) und den European Green Deal als Kompass nutzen.
Das geplante Wachstums- und Konjunkturprogramm ist insofern eine Jahrhundertchance: mit dem vielen Geld, das jetzt ausgegeben wird, kann der Einstieg in die Zukunft gelingen. Investitionen, die ohnehin anstehen, können vorgezogen werden und so die Wirtschaft auf einen klimaresilienten Pfad gebracht werden. Das Programm birgt aber auch die Gefahr eines Jahrhundertfehlers – nämlich dann, wenn das Geld dazu genutzt wird, um bestehende, klimaschädliche Strukturen zu konservieren. Diese tragen dann in sich den Keim für die nächste Wirtschaftskrise. Denn sobald die Klimakrise mit Wucht zuschlägt, werden fossile Geschäftsmodelle – und Länder, die sich hierauf stützen – von einem Tag auf den anderen unwirtschaftlich und zur erheblichen Belastung.“
->Quellen: