Zehn Milliarden Menschen sollen in Wohlstand leben können

Interview mit Franz Josef Radermacher über seine Vision

„Wir wollen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass es eine Welt mit zehn Milliarden Menschen gibt, die in Wohlstand leben können, und das in Frieden mit der Natur und mit viel Freiheit, wie wir es heute in Europa gewohnt sind.“ Das ist die Vision von Prof. Franz Josef Radermacher, Gründer des Global Energy Solutions e. V.. Radermachers Vision in Kurzform: Energie soll „bezahlbar sein, und nicht die Umwelt und das Klimasystem zerstören“.

Mehr, nicht weniger Energie

Braunkohlekraftwerk Schkopau – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Die Anzahl der Menschen auf dem Planeten wächst weiter, und diese Menschen erwarten Wohlstand, vor allem in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Die weltweite Nachfrage nach Energie wird also steigen. „Die Welt löst das Energiedefizit im Moment unter anderem durch immer mehr Kohlekraftwerke“ sagt Radermacher. „Natürlich schadet das massiv dem Klima. Aber da diese Kohlekraftwerke zum Beispiel in afrikanischen Staaten und in Indien gebaut werden, haben wir … das Gerechtigkeitsargument als Rechtfertigung.“ Die Weltgemeinschaft kann nicht verbieten, was für andere der Weg zu Wohlstand war, solange sie keine Alternative bieten kann.

Rückschritte

In dieser Situation sieht Radermacher in der Klimadiskussion vielfach eine falsche Rückbesinnung auf das Nationale und Regionale. „Wir verbieten die Kohle, wir schließen die Atomkraftwerke, wir sind die Guten. Wenn man allerdings nachdenken würde, käme man zu der Erkenntnis, dass man mit dieser Strategie voll gegen die Wand fährt.“ Über die Zukunft des Klimas als globaler Herausforderung wird nämlich final nicht in Deutschland – mit nur 2 Prozent der weltweiten Emissionen – oder Europa entschieden, sondern in den bevölkerungsreichen Entwicklungs- und Schwellenländern.

Technik als Lösung

Radermacher schlägt in dem Interview einen weiten Bogen und zieht historische Vergleiche. Vor 300 Jahren war Holz eine Schlüsselressource. Es wurde nicht nur als Energielieferant genutzt, sondern auch als Baumaterial, nicht zuletzt für die Konstruktion von Kriegsschiffen. In der Folge wurden in Europa ganze Regionen entwaldet. Man sieht es bis heute, zum Beispiel an der dalmatinischen Küste. Die Lösung für diesen Engpass war die Erfindung der Dampfmaschine, die dazu beitrug, Kohle in großem Maßstab zu fördern und zu nutzen. So begann das fossile Zeitalter – mit den langfristig negativen Auswirkungen auf das Klima, mit denen wir heute konfrontiert sind. Heute stehen wir deshalb wieder vor der Notwendigkeit, neue Lösungen zu finden.

Das große Energiepuzzle

„Eigentlich haben wir keine neue Lösung“, sagt Radermacher. „Wir haben ein kompliziertes Puzzle neu zusammengesetzt. Und das gibt uns eine bezahlbare Option für eine klimaneutrale Welt.“ Die Technik für die einzelnen Lösungsbausteine ist vorhanden. Das betrifft die Stromgewinnung, insbesondere durch Solarkraftwerke in der Wüste. Das geht weiter mit der Produktion von grünem Wasserstoff durch Elektrolyse. Ein entscheidender Schritt ist die Herstellung von flüssigen Energieträgern, denn dafür werden große Mengen CO2 benötigt. „Wir können Zementwerke klimaneutral stellen, indem wir CO2 abfangen. Wir können Chemiewerke auf dieselbe Weise klimaneutral stellen. Das ist relativ preiswert. Wir müssen also nicht neue technische Verfahren für die Stahlproduktion oder die Zementindustrie finden. Wir können sogar die Kohlekraftwerke behalten, wenn wir nur das CO2 abfangen.“ Für den Transport von flüssigen Energieträgern wie Methanol kann man die bestehende Infrastruktur – Schiffe, Pipelines, Tankstellen – nutzen. Schließlich sollen im Konzept von Global Energy Solutions technische und natürliche Kohlenstoff-Kreisläufe einander ergänzen. So entsteht ein klimaneutrales System.

Eine Vision wird Realität

Anspruch von Global Energy Solutions ist es, lösungs- und anwendungsorientiertes Wissen zu generieren – als Grundlage für Investitionen, die sich rechnen. Wirtschaftliche Tragfähigkeit ist entscheidend, um Pionieren eine Perspektive zu eröffnen, damit andere nachziehen. „Mein Ehrgeiz ist es“, sagt Radermacher, „dass wir eine Gruppe von Investoren motivieren können, ein Projekt mit einer Elektrolyseleistung von 5.000 Megawatt umsetzen.“ Mit einer Produktionsstätte dieser Größenordnung in Nordafrika um das Jahr 2030 könnte man ein Zehntel des in Deutschland genutzten Benzins klimaneutral ersetzen. „Ziel ist breit verfügbarer weltweiter Energiewohlstand, nicht Zwangswirtschaft von Energiearmut.“

Ergänzende Perspektiven

In seinem Bestreben, CO2 materiell zu nutzen und so zu einem interessanten Wirtschaftsgut zu machen, ist Global Energy Solutions nicht allein.

  • Das nova-Institut hat eine grundlegende Studie „Renewable Carbon – Key to a Sustainable and Future-Oriented Chemical and Plastic Industry“ über  Verwendungsmöglichkeiten von nicht-fossilem Kohlenstoff in der organischen Chemie vorgelegt.
    Gerade in diesem Bereich macht die Rede von der „Dekarbonisierung“ keinen Sinn, argumentieren die Autoren. Schließlich ist Kohlenstoff ein elementarer Bestandteil chemischer Produkte, etwa von Kunststoffen. In der Studie werden sämtliche Quellen von „Renewable Carbon“ untersucht, zum Beispiel organische Abfälle, technische Anlagen wie Kraftwerke (CCU) und die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre. Der Vorschlag des nova-Instituts zielt darauf ab, dass in der organischen Chemie möglichst kein neu geförderter fossiler Kohlenstoff mehr in Umlauf gebracht wird, sondern erneuerbarer Kohlenstoff aus verschiedenen CO2-verursachenden Prozessen.
  • Auch im Umfeld der G20 wird derzeit über Möglichkeiten einer CO2-Kreislaufwirtschaft diskutiert. Das 4R-Konzept steht für Reduce (Reduzierung von CO2 in der Wirtschaft), Reuse (Kohlenstoff als materieller Input für Prozesse und Produkte wie z.B. synthetische Kraftstoffe), Recycle (Recyclierung von CO2 im natürlichen Kohlenstoffkreislauf) und Remove (Entnahme von Kohlenstoff aus der Atmosphäre). Ein entsprechendes Papier plädiert dafür, Kohlenstoff als Element der Wertschöpfung zu behandeln. Ziel ist demnach eine Circular Carbon Economy. Sie schließt neue Technologien ebenso ein wie Nature Based Solutions und die Zusammenarbeit mit CO2-intensiven Industriezweigen wie Stahl oder Beton.

Franz Josef Radermacher (* 20.03.1950 in Aachen), Professor für Informatik an der Universität Ulm, leitet das dortige Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung. Bekannt geworden ist das Mitglied des Club of Rome u. a. durch sein Eintreten für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft und sein Engagement in der Global Marshall Plan Initiative, die sich seit 2003 für eine gerechtere Globalisierung, für eine „Welt in Balance“, einsetzt. Mit den Global Energy Solutions e. V. erarbeiten er und ein Team von Wissenschaftlern weltweite Lösungen und Geschäftsmodelle zu Energie-, Klima- und Entwicklungsfragen mit dem Ziel eines klimaneutralen Energiesystems mit folgenden Elementen: grüner Strom, grüner Wasserstoff, biologisches sowie technisches CO2-Recycling, klimaneutrale Energieträger und Treibstoffe – darunter Methanol. Bei der Produktion wird CO2 materiell genutzt und so zu einem interessanten Wirtschaftsgut. Zusammen mit Industrie- und Wissenschaftspartnern sollen technische, unternehmerische und administrative Grundlagen für bedeutsame Investitionen in diesem Zukunftsfeld entwickelt – Investitionen, die sich rechnen.

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