Um sie zu verstehen, schauen Sie auf die Geschichte
Die gleiche Taktik, mit der einst die Gefahren des (Passiv-)Rauchens und des Klimawandels in Zweifel gezogen worden seien, werde nun angewandt, um COVID-19 herunterzuspielen, schrieb die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes in der . Oreskes diagnostiziert – nicht nur beim sich sträubend abtretenden Trump – „ein historisches Maß an Missachtung der wissenschaftlichen Ratschläge in Bezug auf das COVID-19-Virus“, welche die Pandemie in den USA schlimmer gemacht habe als in den meisten anderen Ländern. Doch dieses gesellschaftliche Muster der Ablehnung wissenschaftlicher Beweise – für die es nie wissenschaftliche Gründe gegeben habe – sei keineswegs überraschend aufgetaucht, habe historische Vorläufer.
In ihrem vielzitierten Buch “Merchants of Doubt” (deutscher Titel: “Die Machiavellis der Wissenschaft” – siehe: solarify.eu/die-machiavellis-der-wissenschaft) belegten Naomi Oreskes und Erik M. Conway schon 2010, wie einige Wissenschaftler im Interesse der Wirtschaft für die Öffentlichkeit den Anschein erwecken, als gäbe es wissenschaftliche Differenzen über bereits entschiedene Fragen. Die Motive: Geld und Wichtigtuerei, und, dass man politisch oder religiös einem Standpunkt verbunden ist; man kann mit einer Außenseitermeinung erhöhte Aufmerksamkeit und Zuspruch einer eigenen Anhängerschaft genießen – oder, man kann sich einfach in eine Ansicht verrannt haben und davon nicht mehr loskommen. (Aus: globalklima.blogspot.de im Artikel über das amerikanische Original „Merchants of Doubt“ auf solarify.eu/haendler-des-zweifels)
„Um das soziale Muster der Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und fachkundiger Beratung zu verstehen, müssen wir über die Wissenschaft hinaus in die Geschichte blicken“, schreibt Oreskes: Viele der verschiedenen Formen von pseudowissenschaftlicher Desinformation hätten ihre Wurzeln in der Geschichte des Tabaks. So sahen die meisten Amerikaner während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft als etwas an, das unser Leben besser machte; „F&E in Unternehmen produzierten tatsächlich Produkte, die viele amerikanische Leben messbar verbesserten. Aber die amerikanischen Unternehmen entwickelten auch das Drehbuch für Wissenschaftsverweigerung und Desinformation“, so Oreskes.
Hauptschuldige an dieser düsteren Geschichte war die Tabakindustrie, deren Drehbuch von Historikern der Wissenschaft,en Technologie und Medizin, sowie Epidemiologen und Anwälten gut dokumentiert worden sei. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden relativiert, indem die Idee propagierte, der Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und Lungenkrebs sei ungewiss oder unvollständig, und dass der Versuch, sie gesetzlichen Regelungen zu unterwerfen, eine Bedrohung für die amerikanische Freiheit darstelle. Die Tabakindustrie habe ihre Produkte durch Erhöhung des Nikotingehalts suchtauslösend gemacht und gleichzeitig öffentlich geleugnet, dass Nikotin süchtig mache. In Merchants of Doubt zeigten Erik M. Conway und ich, wie die gleichen Argumente verwendet wurden, um die Aktion gegen sauren Regen, das Ozonloch und den Klimawandel zu verzögern – und in diesem Jahr sahen wir, wie das falsche Argument der „Freiheit“ verwendet wurde, um das Tragen von Masken zu verunglimpfen.
Skepsis ist ein Grundkriterium jeder wissenschaftlichen Aktivität. Klimawandel-Leugnern ist es aber gelungen, diesen Begriff auf ihre Weise zu besetzen: “Leider wurde der Begriff ‘Skeptiker’ gerade im Zuge der Klimadebatte verschleppt, um etwas ganz anderes zu auszusagen. Er wird benutzt, um Beweisen auszuweichen, die man einfach nicht mag.” Das schreibt der Klimaforscher Michael E. Mann, einer der Hauptautoren des dritten IPCC-Sachstandsberichts und Verfasser des Buches “Der Tollhauseffekt” („The Madhouse Effect“) – Untertitel: “Wie die Leugnung des Klimawandels unseren Planeten bedroht, unsere Politik zerstört und uns in den Wahnsinn treibt” (siehe: solarify.eu/christopher-schrader-rezensiert-im-tollhaus).
Heutzutage sehe man, wie die Strategie der Tabakkonzerne in die sozialen Medien eingesickert sei und die öffentliche Meinung beeinflusst habe. Im Oktober 2019 habe der Kongress in Anhörungen die Rolle von Facebook bei der möglichen Verbreitung von Fehlinformationen untersucht, und im Sommer 2020 mutmaßte ein Bericht, Facebook-Posts könnten zur Unterdrückung von Wahlentscheidungen beitragen. Klimaforscher hätten sich zudem beklagt, der Social-Media-Riese fördere die Klimawandelleugnung, indem er falsche oder irreführende Behauptungen zulasse, während er Antworten von Mainstream-Wissenschaftlern durch die Bezeichnung ihrer Beiträge relativierend als „politisch“ brandmarke. Ein ehemaliger Facebook-Manager bestätigte im Kongress, sein Unternehmen habe eine Seite aus dem alten „Drehbuch“ von Big Tobacco genommen, in der die Taktik beschrieben worden sei, wie das Angebot suchtauslösend gemacht werden sollte, während man gleichzeitig öffentlich den Euphemismus verstärkten „Engagements“ propagierte. Oreskes. „Wie die Tabakindustrie verkauften uns Social-Media-Unternehmen ein giftiges Produkt, während sie darauf bestanden, dass sie den Verbrauchern einfach das gebe, was sie wollten.“
Oreskes starkes Schlusswort wörtlich: „Wissenschaftliche Kollegen fragen mich oft, warum ich eine Karriere in den Naturwissenschaften gegen eine in Geschichtswissenschaften eingetauscht hätte. Für einige von ihnen ist die Geschichte einfach ‚Verweilen in der Vergangenheit‘. Aber, wie der Sänger in The Tempest sagte: ‚Was vergangen ist, ist Prolog.‘ Wenn wir der Desinformation, der Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der negativen Nutzung der Technologie entgegentreten wollen, müssen wir die Vergangenheit verstehen, die uns an diesen Punkt gebracht hat“.
Dieser Artikel wurde ursprünglich unter dem Titel „History Matters to Science“ in Scientific American 323, 6, 81 (Dezember 2020) veröffentlicht – doi:10.1038/scientificamerican1220-81
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