Nachhaltiger Konsum, an den SDGs der UN-Agenda 2030 ausgerichtet

Rede von Chistine Lambrecht beim Consumer Day

Am 01.12.2020 hielt Bundesjustiz- und -verbraucherschutzministerin Lambrecht beim virtuellen Consumer Day eine Rede unter dem Titel: „Verbraucherpolitik im Dienst der SDGs der Agenda 2030“ (im Internet verfügbar). Widerstandsfähige und zukunftsgerichtete Verbraucherpolitik müsse Antreiber zur Umsetzung der Agenda 2030 sein. Das Nachhaltigkeitsziel 12 – nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherzustellen – nehme uns besonders in die Pflicht. Verbraucherpolitik könne und müsse das Bewusstsein dafür stärken, wie wichtig nachhaltiger Konsum sei. Auch bei der Bewältigung der Corona-Krise werde die private Nachfrage eine wichtige Rolle spielen. Im Zentrum der Pläne für die europäische Verbraucherpolitik stünden die breite Etablierung eines nachhaltigen Konsums, eine gemeinwohl- und verbraucherorientierte Gestaltung der digitalen Transformation, die sich an den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen ausrichtet, sowie die wirksame Durchsetzung des Verbraucherrechts. Die Rede im Wortlaut.

Agenda 2030, 17 UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs)

„Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ein herzliches Willkommen zum Consumer Day 2020. Ich freue mich,   dass unsere Veranstaltung auf so reges Interesse stößt. Die heutige Konferenz ist eine unserer letzten großen Veranstaltungen im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Natürlich hatten wir uns dieses Finale anders vorgestellt. Eigentlich wollten wir Sie heute nach Halle einladen: in die schöne Universitätsstadt an der Saale – die auch ein Ausgangspunkt der preußischen Aufklärung war. Das wäre ein passender Ort gewesen für eine Konferenz, in der es um eine vernunftgeleitete Verbraucherpolitik gehen soll. Corona hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und das bedaure ich sehr. Denn natürlich lebt Aufklärung – heute wie damals – auch vom direkten persönlichen Austausch. Doch Abstandhalten bleibt das Gebot der Stunde. Und so müssen wir darauf bauen, dass Geistesblitze auch im virtuellen Raum entstehen können.

Unsere heutige Konferenz findet unter dem Titel statt: ‚Verbraucherpolitik im Dienst der Sustainable Development Goals der Agenda 2030‘. Wir haben diesen Titel sehr bewusst gewählt. Denn in der Tat verlangt die Agenda 2030 der Vereinten Nationen, dass wir alle unsere Politiken in den Dienst der 17 Nachhaltigkeitsziele dieser Agenda stellen, also auch die Verbraucherpolitik. Gerade jetzt, in der aktuellen Pandemie, ist es von höchster Wichtigkeit, dass wir unser Tun auf die Transformation unserer Welt ausrichten, wie die Agenda 2030 sie fordert. Ohne eine Orientierung an den Nachhaltigkeitszielen wird es auch keine gesellschaftliche und wirtschaftliche Erholung aus der Pandemie geben können.

Noch Anfang Februar sind nicht wenige davon ausgegangen, die Corona-Pandemie werde in Europa keine allzu schwerwiegenden Auswirkungen haben, unseren Alltag im Jahr 2020 nicht entscheidend prägen. Bekanntlich kam es anders: Wenige Wochen später spitzte sich die Lage auf den Intensivstationen dramatisch zu; und seither befinden sich unsere Gesellschaften in einem Ausnahmemodus.

Dieses Geschehen belegt:

  • Gefahren, die sich erst mit einer zeitlichen Verzögerung realisieren, sind für uns Menschen besonders gefährlich. Denn ihre Bedrohlichkeit wird zunächst oft unterschätzt.
  • Beim Umgang mit den globalen Bedrohungen, wie sie die Agenda 2030 beschreibt, verhält es sich ähnlich.
  • Der Klimawandel, die fortgesetzte Zerstörung unserer Ökosphäre, die wachsenden Ungleichheiten in den Gesellschaften auf der ganzen Welt gefährden den Bestand der Gesellschaften und insgesamt den Fortbestand der Menschheit.
  • Im Unterschied zur Pandemie, deren Folgen wir in diesen Monaten unmittelbar erleben, treten die Verwerfungen der anderen Krisen bisher eher zeitversetzt auf. Das beginnt sich allerdings zu ändern.
  • Gleichwohl verkennen viele noch immer die reale Gefahr einer Zerstörung der Voraussetzungen, damit Menschen auf dem Globus überhaupt noch existieren können.

Und gerade deshalb ist es notwendig, Nachhaltigkeit jetzt zur obersten politischen Priorität zu erheben. Für viele mag das spät sein. Spät heißt aber nicht zu spät und auf jeden Fall ist spät besser als gar nicht. Zwischen der Pandemie und den anderen Krisen gibt es noch eine weitere Ähnlichkeit. Je später wir auf diese reagieren, desto höher sind die Kosten der Folgen unterlassenen Handelns.

Ergreift man keine Maßnahmen, dann breitet sich das Virus exponenziell aus. Deshalb hat sich jede Woche Verzögerung gerächt, die wir mit der Bekämpfung der Pandemie gewartet haben. Nicht anders wird es bei der Umweltzerstörung, beim Artenschwund und beim Klimawandel sein. Und nicht anders wird es beim Abbau der Ungleichheitsverhältnisse in den Ländern und zwischen den Ländern sein. Denn auch diese Prozesse folgen keiner linearen Logik.

Irgendwann verstärken sich die schädlichen Prozesse gegenseitig – und die Schadensabwendungskosten steigen rasant. Auch deshalb müssen wir uns in den Dienst der Agenda 2030 und der SDGs stellen.

Schließlich noch eine dritte Lektion aus der Corona-Pandemie: Hören wir auf die Erkenntnisse der Wissenschaft! Beim Umgang mit der Pandemie hat sich einmal mehr erwiesen: Politik, die wissenschaftliche Empfehlungen und Prognosen in den Wind schlägt, führt ins Verderben.

Auch dies liefert ein Argument dafür, sich gerade jetzt mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen. Denn in der Wissenschaft und in der Weltgemeinschaft – die UN-Agenda 2030 wurde von allen Staaten der Welt einstimmig beschlossen – herrscht Konsens: Wenn die Menschheit überleben will, muss sie ihren Lebensstil radikal ändern. Und zwar besser heute als morgen.

Ich komme noch einmal auf den Titel unserer heutigen Konferenz zurück: ‚Verbraucherpolitik im Dienst der Sustainable Development Goals der Agenda 2030‘. Dieser Titel ist für uns Programm. Das lateinische Wort Agenda bedeutet: ‚das, was zu tun ist‘. Die Agenda 2030 verlangt, dass alle großen politischen Herausforderungen im Zusammenhang gesehen und im Zusammenhang angegangen werden:

  • Armutsbekämpfung;
  • Abbau von Ungleichheit;
  • Schaffung und Erhalt von Wohlstand;
  • Schutz des Klimas und der Ökosphäre;
  • Frieden und Solidarität.

Bis 2030 müssen in diesen Bereichen entscheidende Fortschritte erreicht werden. Die Agenda verlangt von allen Staaten, an der Bewältigung der Herausforderungen mitzuwirken. Und sie gibt mit den SDGs die Richtung vor. Sie gibt die umfassende Transformation von der Nicht?Nachhaltigkeit zur Nachhaltigkeit vor. In den nächsten Jahren müssen wir alle unsere Lebensbereiche darauf prüfen, ob und wie sie sich verändern müssen, um die Transformation, um diese nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Dabei ist für mich als Justiz- und Verbraucherschutzministerin ein Zweifaches klar:

Zum einen:

  • Die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen,
  • Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie dürfen in keiner Transformation zur Disposition gestellt werden.
  • Alle Transformation muss letztlich auch zur Stärke des Rechts beitragen.

Darüber hinaus ist klar:

  • Auch die Verbraucherpolitik muss ein Treiber der Transformation zur Nachhaltigkeit werden.
  • Die Verbraucherpolitik wird besonders durch Nachhaltigkeitsziel 12 angesprochen: ‚Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen‘.
  • Dieses Ziel betrifft vielleicht das wichtigste Transformationsfeld der Agenda 2030 überhaupt. Denn wäre die Art und Weise, wie wir konsumieren und produzieren, in der Vergangenheit nachhaltig gewesen, hätte es vermutlich keiner Agenda 2030 bedurft und dann müssten wir dazu auch heute keine Konferenz durchführen.

Die Verbraucherpolitik verfügt über wirkmächtige Hebel, um die nachhaltige Entwicklung voranzutreiben.

  1. Ein erster solcher Hebel liegt in der Regelung unternehmerischer Verhaltenspflichten gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchern. Welche Produkte und Dienstleistungen dürfen Unternehmen den Verbraucherinnen und Verbrauchern anbieten – und zu welchen Konditionen? Welchen Informationspflichten unterliegen sie? Welche Produkteigenschaften dürfen sie bewerben? Und welche Verhaltenspflichten gelten speziell für Plattformen? All das sind Fragen der Verbraucherpolitik. Wie wir sie beantworten; welche Grenzen wir ziehen: Das beeinflusst unser Konsumverhalten erheblich.
  2. Ein zweiter wirkmächtiger Hebel der Verbraucherpolitik liegt in der Ausgestaltung von Verbraucherrechten. Geben wir Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit, aus langen Verträgen auszusteigen, wenn sie kein Interesse mehr an einem Produkt oder einer Dienstleistung haben – oder halten wir sie daran fest?
    – Räumen wir ihnen ein effektives Recht auf Reparatur ein – oder müssen sie ein neues Produkt kaufen, wenn das alte defekt ist?
    – Lassen wir kostenfreie Retouren beim Online-Shopping zu – auch um den Preis gesteigerten Verkehrsaufkommens und massenhafter Vernichtung von Neuware?
    Auch diese Fragen sind von erheblicher Relevanz für die Nachhaltigkeit unseres Konsumverhaltens.
    Zum Stichwort Online-Handel: Gestern hat der Sachverständigenrat meinem Ministerium einen Policy-Brief zum Thema „Nachhaltigkeit und Online Handel“ übergeben. Dieser Brief zeigt, wie schwierig es für Verbraucherinnen und Verbraucher ist, verlässliche und aussagekräftige Nachhaltigkeitsinformationen zu erhalten und Orientierung bei den Konsumentscheidungen zu bekommen. Um das Nachhaltigkeitsziel 12 zu erreichen und „nachhaltige Konsum und Produktionsmuster sicherzustellen“, reicht das Konzept des umfassend informierten Verbrauchers nicht aus. Es bedarf der Ergänzung durch staatliche sowie unternehmerische Maßnahmen.
  3. Und Drittens: Verbraucherbildung und Verbraucherberatung. Auch das sind wirkmächtige Hebel. Trotz aller zwingender rechtlicher Vorgaben: In einer freiheitlichen Gesellschaft wird das Konsumverhalten immer auch eine Frage der individuellen Präferenzen bleiben. Steak oder Tofu? Online-Shopping oder stationärer Handel? Die neueste Mode – oder doch Verzicht? Verbraucherinnen und Verbraucher – also wir alle – haben oft die Wahl. Und Ziel der Verbraucherpolitik muss es sein, dass auch noch in Zukunft individuelle Konsumentscheidungen ohne schlechtes Gewissen möglich sind.

Aber:

Wir werden über die Wahlfreiheit nachdenken müssen. Denn nicht-nachhaltige Konsumentscheidungen und das Ausleben nicht-nachhaltiger Präferenzen sind der Kern des Problems. Das Gleiche gilt für den unternehmerischen Wettbewerb. Es muss und soll ihn auch weiterhin geben. Allerdings wird sich unsere soziale Marktwirtschaft zu einer nachhaltigen sozialen Marktwirtschaft weiterentwickeln müssen. Im Ringen um gute und innovative Produkte ist der Wettbewerb ein wichtiges Instrument. Doch wird Wettbewerb nur innerhalb der Grenzen der Nachhaltigkeit stattfinden können, nicht auf Kosten von Biosphäre und Menschenrechten.

Die Nachfragemacht der Verbraucherinnen und Verbraucher spielt bei dieser Transformation eine wichtige Rolle. Je mehr Verbraucherinnen und Verbraucher verlangen, dass der Konsum nachhaltig wird, umso leichter wird es auch der Politik fallen, die entsprechenden nachhaltigen Regeln für die Märkte zu setzen. Dass Verbraucherinnen und Verbraucher auf nachhaltige Produkteigenschaften Wert legen, ist nicht selbstverständlich. Aber es ist ein erreichbares Ziel.

Denn unsere Konsumpräferenzen sind keine natürlichen Konstanten. Der Wunsch nach immer noch mehr und noch billigeren Produkten ist nicht angeboren. Unsere Konsumvorlieben sind beeinflusst durch unser Wissen, durch unser Umfeld und durch den öffentlichen Diskurs.

Auch hier spielt die Verbraucherpolitik eine wichtige Rolle. Verbraucherpolitik kann das Bewusstsein dafür stärken, wie wichtig nachhaltiger Konsum ist. Und Verbraucherpolitik kann dabei helfen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher in Einklang mit diesem Bewusstsein handeln können.

  • Regulierung von Marktverhalten;
  • Ausgestaltung und Durchsetzung von Verbraucherrechten;
  • Verbraucherbildung und Verbraucherberatung:

Die Verbraucherpolitik muss auch ihre Hebel, in den Dienst der sozial-ökologischen Transformation stellen. Doch wie setzen wir die Hebel am besten ein? Und wie stellen wir sicher, dass dabei – ganz im Sinne der Agenda 2030 – niemand zurückbleibt? Dass umweltfreundlicher Konsum soziale Ungleichheiten nicht verschärft? Zu all diesen Fragen gibt es noch viel Diskussionsbedarf. Und genau dafür ist die heutige Veranstaltung da. Sie bringt Interessenträgerinnen und Interessenträger aus Zivilgesellschaft, Verwaltung und Wissenschaft zusammen. Aus ganz Europa. Sie ist ganz dem Diskurs verschrieben. Und wir hören auch die Stimme der künftigen Generation, der Jugend.

Vielen Dank an alle, die zum Gelingen dieser Veranstaltung beitragen und schon beigetragen haben. Ich wünsche Ihnen allen gute Diskussionen. Und uns allen wünsche ich, dass Europa auch in naher Zukunft so viel Solidarität und Entschlusskraft beweist, wie in den vergangenen Monaten. Wenn wir uns diesen Geist des Zusammenhalts und des Muts bewahren: Dann werden wir die Pandemie bewältigen. Und dann werden wir auch die große Aufgabe bewältigen, die vor uns liegt: die von der Agenda 2030 geforderte sozial-ökologische Transformation.“

->Quellen: