Verständnis von Bindungen in Frage gestellt

„Diese Untersuchung rührt an die Grundlagen der Chemie“

Chemiker haben eine „kurze starke Wasserstoffbindung“ (short strong H-bond, SHB) entdeckt – eine Art Zwitter zwischen zwei schon lange bekannten Formen der atomaren Kopplung. Sie ist einerseits keine lose Wasserstoffbrückenbindung mehr, aber auch noch keine kovalente Molekülbindung. Möglicherweise müssen die üblichen Definitionen chemischer Bindungen überarbeitet werden, schreiben die Forscher um Bogdan Dereka und Andrei Tokmakoff von der University of Chikago am 08.01.2021 in Science.

Dort heißt es in der Zusammenfassung: „Wasserstoffbrückenbindungen (H-Bindungen) spielen unbestritten eine wichtige Rolle in chemischen und biologischen Systemen und sind für einige ihrer ungewöhnlichen Eigenschaften verantwortlich. Starke, kurze H-Bindungen bilden eine eigene Klasse, die aufgrund ihrer schwer fassbaren Charakterisierung in den vergangenen Jahrzehnten umstritten geblieben sind. Mit Hilfe der zweidimensionalen Femtosekunden-Infrarotspektroskopie in Verbindung mit quantenchemischen Berechnungen demonstrieren Dereka et al. einen leistungsfähigen Weg, die Natur kurzer H-Bindungen zu untersuchen (siehe die Perspektive von Bonn und Hunger*). Ihre quantitative Charakterisierung von mehrfach gekoppelten Bewegungen im Modellsystem des Bifluorid-Anions [F-H-F]- in wässriger Lösung zeigt mehrere charakteristische Merkmale eines Übergangs von konventionellen zu kurzen, starken H-Bindungen.“

Bindungen weder einfach kovalent noch einfache H-Bindungen

„Diese Studie rührt an die Grundlagen der Chemie, da unser Verständnis von chemischen Bindungen als Stäbchen oder Federn nicht unumstritten ist“, schreiben Mischa Bonn und Johannes Hunger vom Mainzer Max-Planck-Institut für Polymerforschung in einem Parallel-Kommentar ebenfalls in Science. In der Tat sei nicht klar, wie solche „chemischen Bindungen“ genau zu definieren seien – erst 2013 sei eine internationale Konferenz einberufen worden, um neue Wege zur Definition, Beschreibung und Sinnhaftigkeit chemischer Bindungen zu erkunden. „Solche Bemühungen sind keine rein akademischen Übungen. Während der chemischen Umwandlung müssen kovalente Bindungen oft in schwächere H-Bindungen umgewandelt werden, und der Protonentransport in Wasser beruht auf der kontinuierlichen Umwandlung von kovalenten und H-Bindungen.“

Dereka et al. hätten den „Zwischenzustand in einer Flüssigkeit für einen negativ geladenen Fluorid-Wasserstoff-Fluorid (FHF-)-Komplex in Wasser eingefangen, bei dem das Wasserstoffatom genau zu gleichen Teilen auf zwei Fluoratome verteilt ist“. Obwohl Wassermoleküle häufig mit dem Komplex kollidierten, sei dieser Zustand stabil. Diese Bindungstypen ließen sich durch unterschiedliche potenzielle Energieflächen charakterisieren, wenn der Kern des Wasserstoffs aus seiner Gleichgewichtslage verschoben werde.

Das Potenzial für das Proton einer kovalenten Bindung F-H sei „relativ harmonisch und symmetrisch in Bezug auf die Position des Potenzialminimums. Wenn H-Bindungen bei der Wechselwirkung mit einem Fluoridanion gebildet werden, wechselwirkt das Wasserstoffatom schwach mit dem H-Bindungsakzeptor, was die starke kovalente Bindung mit dem Partnerfluor innerhalb seines Moleküls etwas schwächt und eine Asymmetrie induziert. Bei zunehmend starken H-Bindungen wird die kovalente Bindung weiter geschwächt, und der Wasserstoff wird zunehmend zwischen seinem kovalenten Partneratom und der H-Bindung akzeptierenden Gruppe delokalisiert.“

Die Forscher in Chikago hätten (unter Verwendung fortschrittlicher spektroskopischer Werkzeuge zur Untersuchung des sich in diesem Potenzial bewegenden H-Atoms, d. h. der Molekülschwingungen) gezeigt, dass das FHF-Anion als symmetrische molekulare Einheit in Wasser ausreichend lange für eine Untersuchung existiere. „Der Abstand zwischen den F-Anionen in Lösung ist so gering, dass sich das Proton in einem vollständig symmetrischen Potenzial befindet, das keine Barriere für den Transfer zwischen den beiden F- Ionen aufweist. Somit ist das Proton genau zentriert und gleichmäßig zwischen den beiden F- Anionen verteilt. Eine umfangreiche rechnerische Untersuchung ergab, dass die Bindungen weder einfach kovalent noch einfache H-Bindungen sind. Die Autoren erfassten genau den Übergang zwischen kovalenter und H-Bindung und konnten zeigen, dass die reine Wechselwirkung der Partialladung der Atome nicht ausreicht, um die Bindung quantitativ zu beschreiben.“

Die Existenz eines solchen hybriden kovalent-wasserstoffgebundenen Zustands stelle nicht nur „unser derzeitiges Verständnis davon, was eine chemische Bindung genau ist, in Frage, sondern bietet auch die Möglichkeit, chemische Reaktionen besser zu verstehen, bei denen ‚Reaktionszwischenzustände‘ oft beschworen, aber selten direkt untersucht werden. Die erhaltene Ladungsverteilung bei der Bindung könnte zum Beispiel direkt verwendet werden, um unsere aktuellen Modelle zur klassischen Beschreibung von Bindungsbruch und -bildung zu verbessern, vor allem in reaktiven Kraftfeldern. Die Erkenntnisse haben auch direkte Auswirkungen auf Protonentransferreaktionen in der Katalyse oder Protonentransfer in Wasser.“

Nadja Podbregar schreibt in Scinexx dazu: „Nach Ansicht von Dereka und seinen Kollegen spricht all dies dafür, dass es sich bei dieser kurzen starken H-Bindung um eine echte Zwischenstufe zwischen Wasserstoffbrücke und kovalenter Bindung handelt. ‚Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die SHB am Kipppunkt liegt – dort, wo die Wasserstoffbrücke endet und die echte chemische Bindung beginnt‘, schreiben sie. Damit handelt es sich bei diesem ‚Zwitter‘ um eine neue Bindungsform, die ‚zwischen den Stühlen‘ der klassischen Definitionen liegt. Dies wirft die Frage auf, wie eine chemische Bindung genau definiert wird und wie passend die gängigen Vorstellungen noch sind.“

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