30 Millionen in EU können nicht ausreichend heizen

Jacques Delors Institut: „Europa braucht eine politische Strategie zur Beendigung der Energiearmut“

In einem am 02.02.2021 veröffentlichten Bericht des Jacques Delors Instituts unter dem Titel „Europa braucht eine politische Strategie zur Beendigung der Energiearmut“ werden die Europäische Kommission und die EU-Länder aufgefordert, das allgemeine Bewusstsein für Energiearmut zu schärfen und den 30 Millionen Europäern zu helfen, die 2019 ihre Energierechnungen nicht bezahlen konnten, schreibt Kira Taylor am 03.02.2021 auf Euractiv.

Gerüst zur Sanierung in Berlin-Westend – Foto © Gerhard Hofmann für Solarify

Dies sei umso wichtiger angesichts der Pandemie, die wahrscheinlich die Zahl der Menschen in Energiearmut weiter erhöht haben dürfte, so der Mitautor des Berichts Thomas Pellerin-Carlin. Der Report zeigt vor allem, dass das Problem in Süd- und Osteuropa am gravierendsten ist – unter anderem, da die Gebäude dort meist weniger gut gegen kalte Witterung isoliert sind. Bulgarien, Litauen, Griechenland, Portugal und Zypern sind demnach die Länder mit den höchsten Anteilen in der Bevölkerung, die Probleme haben, ihre Häuser und Wohnungen angemessen zu beheizen.

Viele Menschen leiden darüber hinaus auch im Sommer unter Energiearmut und sind dementsprechend nicht in der Lage, ihre Häuser ausreichend zu kühlen. Dies sei besonders besorgniserregend, da der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit und auch Länge von Hitzewellen erhöht. „Es gibt einige Haushalte, die das ganze Jahr über unter Unannehmlichkeiten leiden: Im Winter ist es zu kalt und im Sommer zu heiß,“ erklärt Marie Delair, ebenfalls Mitautorin des Berichts.

Aus dem Abstract des Berichts

„Dieses Strategiepapier gibt einen Überblick über den Stand der Energiearmut in der Europäischen Union und die Art und Weise, wie dieses Problem derzeit von den Mitgliedsstaaten und der EU angegangen wird. Obwohl es den Anschein hat, dass die Energiearmut in den letzten Jahren generell zurückgegangen ist, gab es 2019 immer noch mehr als 30 Millionen Europäer, die angaben, ihre Wohnung im Winter nicht angemessen heizen zu können.
Die Mitgliedstaaten verfolgen unterschiedliche Ansätze zur Bekämpfung der Energiearmut: Einige konzentrieren sich eher auf palliative Maßnahmen wie Sozialleistungen zur Unterstützung gefährdeter Haushalte, während andere eher präventive und kurative Maßnahmen ergreifen, die darauf abzielen, die Energieeffizienz von Wohnungen zu verbessern und damit den Energieverbrauch zu senken. Beide Arten von Maßnahmen sind notwendig, um eine der Hauptursachen des Problems, nämlich die schlechte Energieeffizienz von Gebäuden, zu bekämpfen und gleichzeitig einkommensschwache Haushalte bei hohen Energierechnungen zu helfen. Die COVID-19-Krise verschärft die Energiearmut in Europa weiter.
Die EU hat in den letzten zehn Jahren einen Rahmen zur Bekämpfung der Energiearmut mit Gesetzen, dem Austausch bewährter Verfahren und Finanzierungsinstrumenten zur Unterstützung gefährdeter Haushalte und zur Verbesserung der Energieeffizienz geschaffen. Die jüngste Initiative der Kommission, die Gebäuderenovierungswelle, soll die Grunrenovierung von Gebäuden beschleunigen. Und da mindestens 37 % der 312 Milliarden Euro, welche die EU den Mitgliedstaaten zur Verfügung stellt, für Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen sind, haben die Mitgliedstaaten nun die finanziellen Mittel, um Millionen von Europäern aus der Energiearmut zu befreien.
In diesem Zusammenhang können und sollten die Mitgliedstaaten jetzt viel ehrgeizigere Maßnahmen gegen Energiearmut ergreifen und eine politische Strategie entwickeln, um der Energiearmut mehr Sichtbarkeit und Priorität auf der Agenda zu geben, um endlich Millionen von Europäern aus dieser Situation zu befreien. Ein solches Unterfangen erfordert entschlossenes Handeln von Europa im weitesten Sinne, von der EU bis hin zur nationalen und lokalen Ebene.
Das Strategiepapier schlägt daher vor, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine politische Strategie verfolgen sollten, die das Ziel, alle Europäer aus der Energiearmut zu befreien, zu einer Schlüsselkomponente des europäischen Green Deals macht. Indem man sich zunächst auf die Unterstützung energiearmer europäischer Familien konzentriert, argumentiert dieses Papier, dass die politischen Entscheidungsträger der EU greifbare Entscheidungen treffen können, die auf sehr konkrete Weise zeigen, dass der Europäische Green Deal und die Europäische Säule sozialer Rechte auch Bestrebungen sind, die europäische Lebensweise zu verbessern, angefangen bei den Millionen europäischer Familien, die derzeit ihre Häuser nicht richtig heizen können. Dies sollte ein erster politischer Schritt sein, um andere Facetten der Energiearmut anzugehen: die Unfähigkeit, das eigene Haus während Hitzewellen zu kühlen, und der fehlende Zugang zu täglichen Transportdienstleistungen.

Nun sei davon auszugehen, so Euractiv weiter, dass die Pandemie die beiden Hauptursachen für Energiearmut weiter verschärft habe: „COVID-19 hat zwei extrem negative Auswirkungen auf energiearme Haushalte. Der erste ist, dass die Zahl der von Armut betroffenen Menschen aufgrund der Einkommensverluste durch die Wirtschaftskrise allgemein zunimmt,“ so Pellerin-Carlin. „Der zweite Grund ist die Tatsache, dass die Menschen gezwungen sind, mehr Zeit in ihren Häusern und Wohnungen zu verbringen – wegen der Lockdowns, wegen der Ausgangssperren, wegen anderer COVID-bezogener Maßnahmen. Dadurch steigen die Energierechnungen.“

Menschen mit geringem Einkommen und diejenigen, die in Sozialwohnungen leben, sind laut Bericht am ehesten von Energiearmut betroffen. Außerdem leben Frauen häufiger in schlechten Wohnverhältnissen als Männer. Darüber hinaus warnt das Instituts, dass „neue“ Gruppen, wie Studierende und Selbstständige pandemiebedingt jetzt oder in Zukunft stärker von Energiearmut bedroht seien,.

Renovierungen und Sanierungen

Damit die EU ihre Klimaziele erreichen kann, ist eine tiefgreifende und unionsweite Renovierung der Gebäude notwendig. Derzeit sind Gebäude schätzungsweise für 40 Prozent des Energieverbrauchs und 36 Prozent der CO2-Emissionen in der Union verantwortlich. Im Oktober des vergangenen Jahres startete die Kommission daher ihre selbst so betitelte Renovierungswelle“. Mit ihr sollen Programme zur Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden gefördert werden. Gelder aus dem 750 Milliarden Euro schweren Recovery Fund werden ebenfalls zur Verfügung stehen, um die Bemühungen der Mitgliedsstaaten zur Verbesserung der Wohnverhältnisse finanziell zu unterstützen.

„Wir haben alle Zutaten. Was wir jetzt brauchen, ist das richtige Rezept,“ so Pellerin-Carlin. Geld sei da; es brauche aber vor allem politischen Willen, Renovierungen dort umzusetzen, wo sie besonders nötig sind. Man müsse allerdings beachten, dass das Recovery-Geld möglicherweise nicht für Renovierungen verwendet wird: Pellerin-Carlin verweist auf Bulgarien, wo die Gefahr besteht, dass EU-Gelder stattdessen für Erdgas-Infrastruktur ausgegeben werden könnten.

Daher müsse die Kommission Regeln festlegen. Außerdem solle gewährleistet werden, dass „Renovierungsgeld“ nicht nur reichen Kommunen zugute kommt: „Was wir fordern, ist, dass die Europäische Kommission sicherstellt, dass in jedem nationalen Plan zumindest ein Teil der Gelder zweckgebunden und speziell für energiearme Haushalte vorgesehen ist.“

In der EU wurden die Sanierungsziele immer wieder verfehlt. Laut der Energieeffizienz-Richtlinie sollten die Länder jedes Jahr mindestens drei Prozent der staatlichen Gebäude renovieren. Dieses Ziel wurde vielerorts nicht erreicht. Die EU-Länder sollten außerdem bis März 2020 nationale langfristige Renovierungsstrategien vorlegen – aus Sicht der Kommission der Schlüssel zur Bekämpfung der Energiearmut. Doch nur die Hälfte der Mitgliedsstaaten hat dies tatsächlich getan.

Im Bericht wird abschließend auf eine fragmentierte und ineffiziente Energiepolitik hingewiesen, die sich in den nationalen Energie- und Klimaplänen der Länder widerspiegelt. Die aktuellen Pläne seien schlichtweg nicht ehrgeizig genug, um die von der Kommission gewünschte Treibhausgasreduktion um 55 Prozent bis 2030 zu erreichen. (Euractiv-Text bearbeitet von Frédéric Simon und Tim Steins)

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