BESSY II: Weltweit erstes Video von Raum-Zeit-Kristall

Elektronen-Spinwellen kondensieren zu exotischem, sich in Raum und Zeit wiederholendem Materiezustand – energieeffizientere Informationstechnologien

Forscher auf dem Gebiet der Spintronik versuchen, die Eigenschaften der Elektronenspins von Materialien zu nutzen, um neue, energieeffizientere Informationstechnologien zu entwickeln. Dabei werden Daten oft über Quasiteilchen, so genannte Magnonen, kodiert und übertragen – kollektive Anregungen von Elektronenspins. Jetzt haben Joachim Gräfe vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Stuttgart, der Adam Mickiewicz University und der Polish Academy of Sciences in Poznan Magnonen verwendet, um einen neuen Materiezustand zu bilden, der Raum-Zeit-Kristall genannt wird, und sie haben weltweit die erste Aufnahme davon produziert; in den Physical Review Letters stellen sie vor, wie dieser Zustand mit anderen Magnonen wechselwirkt.

(a) Skizze der Probe mit einem magnonischen Py-Streifen (gelb) und einem koplanaren Wellenleiter (grau). (b) Schnappschuss aus einem zeitaufgelösten STXM-Video. Die graue Skala stellt die mz-Komponente dar. (c) Phasen- und Amplitudenkarte bei fcw nach FFT in der Zeit durch jedes Pixel des STXM-Films. Der Farbcode zeigt die Amplituden- und Phaseninformation – Bild © Nick Träger et.al. ‚Real-Space Observation‘, CC-BY 4.0

So wie ein herkömmlicher Kristall durch ein Muster definiert ist, das sich im Raum wiederholt, hat ein Raum-Zeit-Kristall eine variierende Struktur, die sich auch in der Zeit wiederholt. Solche Strukturen sind erst kürzlich experimentell realisiert worden (siehe Blickpunkt: Wie man einen Zeitkristall erzeugt). Gräfe und Kollegen erzeugten ihren Raum-Zeit-Kristall, indem sie ein Hochfrequenzfeld an einen mikrometergroßen, raumtemperierten Streifen aus einer Nickel-Eisen-Legierung anlegten. Das Feld regte Magnonen an, die ein dynamisches räumliches Muster bildeten, das die Forscher mit einer Anordnung von Kugeln auf einem Billardtisch vergleichen – wenn die Billardkugeln nach ihrer Zerstreuung immer wieder in ihren kollektiven Ausgangszustand zurückkehren.

Nachdem sie den einen Mikrometer großen Raum-Zeit-Kristall mit Hilfe der Röntgenmikroskopie abgebildet hatten, lenkten die Forscher andere Magnonen auf ihn. Sie fanden heraus, dass diese Magnonen ähnlich gestreut wurden, wie sie es von einem herkömmlichen Kristall tun würden. Dieser Streuprozess erzeugte ultrakurze Magnonen, deren genaue Wellenlängen durch Veränderung der Parameter des Hochfrequenzfeldes eingestellt werden konnten. Die Forscher sagen, dass die Fähigkeit, den Raum-Zeit-Kristall auf diese Weise leicht zu rekonfigurieren, gepaart mit seinem Betrieb bei Raumtemperatur, das Gerät zu einer geeigneten Plattform für magnonenbasierte Informationstechnologie macht (Sophia Chen in physics.aps.org).

Aus Magnonen bestehendes periodisches Raum-Zeit Muster entsteht bei Raumtemperatur

Das deutsch-polnische Forschungsteam konnte die periodische Magnetisierungsstruktur in einem Kristall mit Hilfe des Rasterröntgenmikroskops MAXYMUS an Bessy II am Helmholtz Zentrum Berlin sogar filmen – weltweit zum ersten Mal. Dieses weltweit erste Video eines Raum-Zeit-Kristalls bei Raumtemperatur sowie das Forschungsprojekt an sich stellten die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in Stuttgart, der Adam Mickiewicz University und der Polish Academy of Sciences in Poznan in den Physical Review Letters vor.

Eine Ordnung im Raum und eine Periodizität in der Zeit – erst 2017 entdeckt

Ein Kristall ist ein Festkörper, dessen Atome oder Moleküle regelmäßig in einer bestimmten Struktur angeordnet sind. Bei Raum-Zeit-Kristallen verhält es sich ähnlich: die wiederkehrende Struktur gibt es allerdings nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Die kleinsten Bestandteile sind ständig in Bewegung, bis sie nach einer bestimmten Periode wieder exakt dem ursprünglichen Anordnungsmuster entsprechen. Der Physiknobelpreisträger Frank Wilczek entdeckte 2012 die Symmetrie von Materie in der Zeit. Er gilt als der Entdecker dieser sogenannten Zeitkristalle, obwohl er sie als Theoretiker nur hypothetisch vorhersagte. Dass es Raum-Zeit-Kristalle tatsächlich gibt, wurde erstmals 2017 entdeckt. Jedoch waren die Strukturen nur wenige Nanometer klein und bildeten sich nur bei sehr kalten Temperaturen von unter -250 Grad Celsius. Dass es den deutsch-polnischen Wissenschaftlern nun gelang, bei Raumtemperatur mit einigen Mikrometern verhältnismäßig große Raum-Zeit-Kristalle in einem Video abzubilden, gilt daher als bahnbrechend.

Potenzial für Anwendungen in Kommunikationstechnik, Radartechnik oder Bildgebung

In ihrem Versuch legten Träger und Gruszecki einen Streifen eines magnetischen Materials auf eine mikroskopische Antenne, durch die sie einen Hochfrequenz-Strom leiteten. Dieses Mikrowellenfeld löste ein oszillierendes Magnetfeld aus, eine Energiequelle, die die Magnonen in dem Streifen anregte. Von links und rechts wanderten magnetische Wellen in den Streifen und kondensierten spontan in ein immer wiederkehrendes Muster in Raum und Zeit. Im Gegensatz zu trivialen, stehenden Wellen entstand dieses Muster schon vor der Interferenz der zwei aufeinander zulaufenden Wellen. Bei dem Muster, das regelmäßig verschwindet und von selbst wieder entsteht, muss es sich also um einen Quanteneffekt handeln.

Joachim Gräfe, ehemaliger Forschungsgruppenleiter in der Abteilung für Moderne Magnetische Systeme und Letztautor der Veröffentlichung sagt: „Klassische Kristalle haben ein sehr breites Anwendungsfeld. Wenn nun Kristalle nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit interagieren können, fügen wir eine weitere Dimension möglicher Anwendungen hinzu. Das Potenzial für Anwendungen in der Kommunikationstechnik, der Radartechnik oder Bildgebung ist groß.“

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