„NO2-Grenzwerte systematisch und anhaltend überschritten“ – von 2010 – 2016
Die EU-Kommission kam den deutschen NGO zu Hilfe – mit einer Klage gegen Deutschland vor dem EuGH wegen Missachtung der Richtlinie über Luftqualität. Eine Medienmitteilung des EuGH: „Von 2010 bis 2016 hat Deutschland die Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) systematisch und anhaltend überschritten. Zudem hat Deutschland gegen seine Verpflichtung verstoßen, rechtzeitig geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Zeitraum der Nichteinhaltung in den 26 betroffenen Gebieten so kurz wie möglich zu halten. Mit seinem heutigen Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass Deutschland dadurch gegen die Richtlinie über Luftqualität verstoßen hat, dass der NO2-Jahresgrenzwert in 26 der 89 beurteilten Gebiete und Ballungsräume vom 01.01.2010 bis einschließlich 2016 systematisch und anhaltend überschritten wurde.“
„Es handelt sich um
- den Ballungsraum Berlin,
- den Ballungsraum und den Regierungsbezirk Stuttgart,
- den Regierungsbezirk Tübingen,
- den Ballungsraum Freiburg,
- den Regierungsbezirk Karlsruhe (ohne Ballungsräume),
- den Ballungsraum Mannheim/Heidelberg,
- den Ballungsraum München,
- den Ballungsraum Nürnberg/Fürth/Erlangen,
- das Gebiet III Mittel-und Nordhessen,
- den BallungsraumI Rhein-Main,
- den Ballungsraum II Kassel,
- den Ballungsraum Hamburg,
- Grevenbroich (Rheinisches Braunkohlerevier),
- Köln,
- Düsseldorf,
- Essen,
- Duisburg/Oberhausen/Mülheim,
- Hagen,
- Dortmund,
- Wuppertal,
- Aachen,
- die urbanen Bereiche und den ländlichen Raum im Land Nordrhein-Westfalen,
- Mainz,
- Worms/Frankenthal/Ludwigshafen und
- Koblenz/Neuwied.
Zudem hat Deutschland dadurch gegen die Richtlinie verstoßen, dass der Stundengrenzwert für NO2 in zwei Gebieten, und zwar im Ballungsraum Stuttgart und im Ballungsraum I Rhein-Main, systematisch und anhaltend überschritten wurde. Überdies hat Deutschland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie und insbesondere gegen die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass die Luftqualitätspläne geeignete Maßnahmen vorsehen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung der Grenzwerte so kurz wie möglich gehalten wird, verstoßen, dass keine geeigneten Maßnahmen ergriffen wurden, um ab dem 11.06.2010 in allen Gebieten die Einhaltung der Grenzwerte für NO2 zu gewährleisten.
Daher hat der Gerichtshof der Klage der Europäischen Kommission für die genannten Zeiträume in vollem Umfang stattgegeben.
Die Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.05.2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, L152, S.1 sieht für NO2 ab dem 01.01.2010 Grenzwerte von 40?g/m³ im Jahresmittel und von 200 ?g/m3 im Stundenmittel vor. Der letztgenannte Wert darf nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr überschritten werden.
Die Klage betrifft nicht die Folgejahre (2017 und 2018), für die Deutschland geltend gemacht hat, dass die fraglichen Grenzwerte eingehalten worden seien. Die von Deutschland für das Jahr 2016 gemeldeten Werte lagen in allen 26 Gebieten zwischen 2,5% und 105 % über dem Jahresgrenzwert von 40?g/m³. In 16 Gebieten lagen die NO2-Konzentrationen in der Luft um 25% oder mehr darüber, in sieben Gebieten sogar um 50% oder mehr. In manchen Jahren wurde der Grenzwert in einer Reihe dieser Gebiete (so im Ballungsraum Stuttgart in den Jahren 2010 und 2011 und im Ballungsraum München im Jahr 2010) um etwa 150% überschritten. Im Ballungsraum Stuttgart und im Ballungsraum I Rhein-Main wurde bei dem Stundengrenzwert von 200 ?g/m3 die zulässige Zahl von 18 Tagen pro Kalenderjahr von 2010 bis einschließlich 2016 in jedem Jahr um mindestens 50% überschritten, denn die Zahl der Überschreitungen dieses Werts lag zwischen 28 und 183 Tagen pro Jahr, wenn auch mit einer gewissen rückläufigen Tendenz während dieses Zeitraums.
Der Gerichtshof weist insbesondere das Vorbringen Deutschlands zurück, dass die Überschreitungen der Grenzwerte für NO2 maßgeblich auf eigene Versäumnisse der Kommission zurückzuführen seien, da sie sich hinsichtlich eines Vorschlags für wirksame Rechtsvorschriften zur Begrenzung der Emissionen dieses Schadstoffs durch Dieselfahrzeuge nachlässig gezeigt habe. Deutschland hat hinzugefügt, als besonders problematisch im Hinblick auf die Einhaltung der in der Richtlinie über Luftqualität festgelegten Grenzwerte für NO2 hätten sich Dieselfahrzeuge der Norm „Euro5“ erwiesen. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass – abgesehen davon, dass Kraftfahrzeuge, die den auf Unionsebene aufgestellten Vorschriften unterliegen, nicht die alleinige und einzige Ursache von NO2-Emissionen sind – die für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen geltende Unionsregelung die Mitgliedstaaten nicht von ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der in der Richtlinie festgelegten Grenzwerte befreien kann. Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat die in der Richtlinie festgelegten Grenzwerte für NO2 überschreitet, ist allerdings für sich allein nicht ausreichend, um festzustellen, dass dieser Mitgliedstaat auch gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, dafür zu sorgen, dass der Zeitraum der Nichteinhaltung der für den betreffenden Schadstoff festgelegten Grenzwerte so kurz wie möglich gehalten wird. Wie sich aus einer detaillierten Prüfung der Akte ergibt, hat Deutschland jedoch offenkundig nicht rechtzeitig geeignete Maßnahmen getroffen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung der Grenzwerte für NO2in den 26 in Rede stehenden Gebieten so kurz wie möglich gehalten wird.
HINWEIS: Eine Vertragsverletzungsklage, die sich gegen einen Mitgliedstaat richtet, der gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat, kann von der Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden. Stellt der Gerichtshof die Vertragsverletzung fest, hat der betreffende Mitgliedstaat dem Urteil unverzüglich nachzukommen.
Ist die Kommission der Auffassung, dass der Mitgliedstaat dem Urteil nicht nachgekommen ist, kann sie erneut klagen und finanzielle Sanktionen beantragen. Hat ein Mitgliedstaat der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie nicht mitgeteilt, kann der Gerichtshof auf Vorschlag der Kommission jedoch bereits mit dem ersten Urteil Sanktionen verhängen.“
Reaktionen – 1. Greenpeace
Das in Städten hauptsächlich von Diesel-Pkw ausgestoßene Atemgift NO2 verursacht Herz-Kreislauferkrankungen und steht in Zusammenhang mit Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Asthma. Im März hat das Europäische Parlament die EU-Kommission aufgefordert, die Luftqualitätsrichtlinie an die von der WHO empfohlenen stärkeren Grenzwerte anzupassen. Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Stephan: „Dieses Urteil ist eine höchstrichterliche Klatsche für die gesundheitsgefährdende Verkehrspolitik der Union. Seit über einem Jahrzehnt gelten die europäischen NO2-Grenzwerte, und noch immer müssen Millionen Städter schmutzige Luft atmen – deutlicher lässt sich kaum zeigen, dass Verkehrsminister Andreas Scheuer und seine CSU-Vorgänger das Wohl der Menschen hinter Interessen der Autoindustrie stellen. Schon jetzt arbeitet die EU daran, die Luftqualität mit stärkeren Grenzwerten weiter zu verbessern. Will Deutschland nicht auch den kommenden Grenzwerten hinterherlaufen, muss die Bundesregierung dem Verbrennungsmotor jetzt ein Enddatum setzen.“
2. DUH-Erklärung
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Rechtsauffassung der Deutschen Umwelthilfe (DUH) bestätigt, dass Deutschland über Jahre hinweg systematisch keine geeigneten Maßnahmen ergriffen hat, um die Überschreitung des Jahresmittelwertes für Stickstoffdioxid (NO2) zu senken (C 635/18). Die Richter folgten damit der Europäischen Kommission, die 2018 die Bundesrepublik verklagt hatte. Sie machen in ihrer Begründung deutlich, dass die Weigerung der Bundesregierung, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den Grenzwert so schnell wie möglich einzuhalten, nicht hinnehmbar ist. Die DUH begrüßt die heutige Entscheidung des EuGH als Grundsatzentscheidung in der Luftreinhaltepolitik.
DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch: „Das höchste europäische Gericht bestätigt mit seinem Urteil die Rechtsauffassung der DUH, dass Deutschland seit über zehn Jahren systematisch und vorsätzlich europäisches Recht gebrochen hat. Die Bundesregierungen haben seit 2010 bewusst eine Politik gegen die Menschen im Land betrieben und ihre Verpflichtung zur Luftreinhaltung ignoriert. Seit 2010 sind allein in Deutschland nach Berechnungen der Europäischen Umweltagentur mehrere hunderttausend Menschen vorzeitig an den Folgen zu hoher Luftbelastung gestorben. Die heutige Entscheidung des EuGH ist eine schallende Ohrfeige für eine Regierungspolitik, die einseitig die Wirtschaftsinteressen betrügerischer Automobilkonzerne bedient und auf die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger pfeift. Eine neue Bundesregierung muss sicherstellen, dass alle circa zehn Millionen noch auf unseren Straßen verkehrenden Betrugs-Diesel entweder stillgelegt oder auf Kosten der Hersteller nachgerüstet werden“.
Rechtsanwalt Remo Klinger, der die DUH in den Verfahren für Saubere Luft vertritt: „Das Urteil ist großartig, kommt aber zu spät. Die Grenzwerte gelten schließlich seit mehr als zehn Jahren. Ohne die erfolgreichen Klagen der DUH würden wir erst jetzt ernsthaft beginnen, über Grenzwerteinhaltungen in unseren Städten zu reden. Das heutige Urteil adelt daher die Arbeit der DUH auf höchstem europäischem Niveau.“
Erst durch die Klageverfahren der DUH für die Durchsetzung der Sauberen Luft in 40 Städten und neun Bundesländern hat sich die NO2-Belastung in vielen deutschen Städten deutlich verbessert. Sofern der Grenzwert nicht während des Verfahrens eingehalten wurde und sich das Verfahren dadurch erledigte, hat der Umweltverband alle bisher abgeschlossenen Verfahren ausnahmslos mit erfolgreichen Urteilen oder richterlichen Vergleichen beendet und damit die überfälligen geeigneten Maßnahmen für die Saubere Luft durchgesetzt. Dazu zählen Dieselfahrverbote, Umweltspuren, die Nachrüstung von Bussen, die Verbesserung von öffentlichem Nahverkehr, Fahrrad- und Fußverkehr, Tempo 30 und vieles mehr. Aufgrund der ausgehandelten Maßnahmen konnte die NO2-Belastung in den 40 von der DUH beklagten Städten von 2018 auf 2019 doppelt so stark verringert werden wie in Nicht-Klagestädten.
Gleichwohl verbleiben in den beiden Landeshauptstädten der Betrugs-Dieselkonzerne BMW und Daimler – München und Stuttgart – noch Grenzwertüberschreitungen mit bis zu 54 µg/m³ im Jahr 2020. Das aktuell niedrige NO2-Niveau hängt ganz wesentlich auch mit der Corona-bedingt stark verringerten Mobilität zusammen. Die DUH rechnet für das 2. Halbjahr 2021 mit einem deutlichen Anstieg. „Nach dem heutigen, alle verbliebenen Rechtsfragen klarstellenden Urteil des EuGH erwarten wir kurzfristige Maßnahmen der verbleibenden Städte, dass die NO2-Grenzwerte eingehalten werden. Wenn nicht, werden wir diese wie in Stuttgart mit Vollstreckungsmaßnahmen kurzfristig gerichtlich durchsetzen“, so Resch.
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