Ozean setzt arktischem Meereis zu
„Acht Monate nach dem Ende der historischen Arktisexpedition des Forschungsschiffs „Polarstern“ haben die Wissenschaftler eine erste Zwischenbilanz gezogen. Die verheißt wenig Gutes“, sagt Radio-Korrespondent Marcel Heberlein. Der Einstrom warmer Wassermassen aus dem Nordatlantik in die europäischen Randmeere des Arktischen Ozeans trägt vor allem im Winter zu einer deutlichen Abnahme des Meereiswachstums bei. Beweise dafür präsentierten Meereisphysiker des Alfred-Wegener-Institutes (AWI) gemeinsam mit Forschenden aus den USA und Russland am 15.06.2021 in zwei neuen Untersuchungen. Eine Studie umfasst auch Daten der MOSAiC-Expedition (siehe: solarify.eu/mosaic-eingefroren-im-ewigen-eis).
Darin zeigen sie zum einen, dass die Wärme aus dem Atlantik das winterliche Eiswachstum in der Barents- und Karasee bereits seit Jahren hemmt. Zum anderen können sie belegen, dass Wärmeattacken atlantischer Wassermassen auch weiter östlich, am Nordrand der Laptewsee, das Eisdickenwachstum mitunter so nachhaltig beeinflussen, dass die Effekte selbst ein Jahr später noch nachweisbar sind, wenn das Eis über den Nordpol Richtung Grönland gedriftet ist und die Arktis durch die Framstraße verlässt.
Den zunehmenden Einstrom warmer atlantischer Wassermassen in den Arktischen Ozean bezeichnen Meeresforschende als Atlantifizierung. Bislang hat die Wissenschaft diesen Prozess vor allem aus ozeanographischer Perspektive untersucht. In zwei neuen Studien beziffern AWI-Meereisphysiker nun erstmals, welche Auswirkungen der Wärmeeintrag auf das Meereiswachstum in der Arktis hat. Zu beachten ist dabei, dass überall dort, wo im Sommer die Meereisdecke komplett wegschmilzt, das Meer im anschließenden Winter besonders viel Wärme an die Atmosphäre abgibt. Infolgedessen gefriert das Meer so rasant, dass die sommerlichen Eisverluste kompensiert werden. „Junges, dünnes Meereis leitet Wärme deutlich besser als dickes Eis und schützt das Meer deshalb schlechter vor der Auskühlung. Gleichzeitig gefriert mehr Wasser an der Eisunterseite, weshalb dünnes Eis auch schneller wächst als dickeres Eis“, erläutert AWI-Meereisphysiker Robert Ricker, Co-Autor der ersten Untersuchung.
Dieses wichtige Winterwachstum läuft jedoch nicht mehr in allen Randmeeren reibungslos ab, wie Robert Ricker und Kollegen mithilfe von Langzeitdaten zur Dicke, Konzentration und Drift des arktischen Meereises herausgefunden haben. „Wir haben Satellitendaten der ESA Climate Change Initiative ausgewertet und sehen, dass im Zeitraum von 2002 bis 2019 vor allem in der Barentssee und der Karasee immer weniger Meereis gebildet wurde“, berichtet Ricker. In der Ostsibirischen See sowie in der Beaufort- und Tschuktschensee hingegen sei die winterliche Eisproduktion noch groß genug, um die Sommerverluste auszugleichen.
Um der Ursache dieser regional unterschiedlichen Entwicklungen auf den Grund zu gehen, simulierten die Wissenschaftler das Wechselspiel zwischen Ozean, Eis, Wind und Lufttemperatur für die zurückliegenden vier Jahrzehnte mit zwei gekoppelten Eis-Ozean-Modellen. Beide Simulationen führten zur selben Erkenntnis. „Verantwortlich sind warme Wassermassen, die aus dem Nordatlantik in den Arktischen Ozean strömen und das Eiswachstum in der Barentssee und Karasee bremsen oder sogar verhindern. Bildet sich doch neues Eis, so ist dieses deutlich dünner als früher“, sagt Robert Ricker und fügt hinzu: „Sollte sich die Atlantifizierung in diesem Maße fortsetzen und die Wintertemperaturen in der Arktis weiter ansteigen, werden wir langfristig auch Veränderungen in weiter östlich liegenden Regionen des Arktischen Ozeans sehen.“ Unter diesen Umständen werde die Eisdecke des Arktischen Ozeans dann kleiner, dünner und fragiler werden als sie ohnehin schon ist.
Anzeichen für aufsteigende Wärme am Nordrand der Laptewsee
Von ersten Anzeichen, dass die aufsteigende Meereswärme die Eisbildung auch in der Laptewsee bremst, berichten die AWI-Meereisphysiker in der zweiten Studie, die auch Messungen der Eisscholle der einjährigen MOSAiC-Expedition im Spätsommer 2020 beinhaltet. Darin werten die Forschenden die Langzeitdaten ihres Meereisdicken-Messprogramms „IceBird“ in der Arktis aus und rekonstruieren die Herkunft außergewöhnlich dünnen Meereises, das sie im Sommer 2016 in der nördlichen Framstraße vom Forschungsflugzeug aus vermessen haben. Das Eis war damals gerade mal 100 Zentimeter dick und somit bis zu 30 Prozent dünner als in den Jahren zuvor – eine Differenz, die sich die Forscher zunächst nicht erklären konnten. „Um das Rätsel zu lösen, haben wir zunächst mithilfe von Satellitenaufnahmen die Driftroute des Eises zurückverfolgt. Es stammte ursprünglich aus der Laptewsee“, berichtet AWI-Meereisphysiker Jakob Belter. Anschließend überprüften die Wissenschaftler das Wetter entlang der Strecke. Doch die Atmosphärendaten zeigten für den Zeitraum von 2014 bis 2016 keinerlei Auffälligkeiten.<
Die Antwort musste also im Ozean liegen – und tatsächlich: Von Januar bis Mai 2015 dokumentierten Forschende der Universität Fairbanks Alaska im Meeresgebiet nördlich der Laptewsee außergewöhnlich hohe Wassertemperaturen. Die Wärme, so weiß man heute, war mit atlantischen Wassermassen aus der Tiefe aufgestiegen und hatte das winterliche Wachstum des jungen Meereises verlangsamt. „Anhand der Satellitendaten können wir belegen, dass das dünne Eis, das wir im Juli 2016 in der Framstraße vermessen haben, zuvor genau durch dieses außergewöhnlich warme Meeresgebiet vor der russischen Kontinentalkante gewandert ist“, so Belter. Die Meereshitzewelle muss zudem ein so starkes Ereignis gewesen sein, dass ihre Auswirkungen auf das Dickenwachstum des Meereises bis zum Ende der Drift über den Arktischen Ozean nicht wieder ausgeglichen werden konnten.
Beide neuen Studien unterstreichen die Bedeutung von Langzeitdatenreihen für die Meereisforschung in der Arktis. „Wenn wir die Veränderungen des arktischen Meereises verstehen wollen, sind Langzeitbeobachtungen der Eisdicke mit Hilfe von Satelliten und Flugzeugen unverzichtbar. Gemeinsam mit Modelldaten zeichnen sie ein Gesamtbild mit jener Detailschärfe, die wir benötigen, um die wirklich entscheidenden Prozesse der sich verändernden Arktis zu identifizieren“, so Belter.
Nicht immer neue, ambitioniertere Ziele beschließen – sondern handeln!
MOSAIC-Leiter Markus Rex vom AWI sagt, das Eis sei nur noch halb so dick gewesen wie vor fast 130 Jahren. Hitzewellen, wie die im Sommer 2020 in Europa, würden durch den Rückgang des arktischen Eises verstärkt. Rex ist nicht sicher, ob das arktische Meereis noch zu retten ist. Es schmilzt infolge des Klimawandels und verschärft ihn damit weiter: „Um so eine komplizierte Mechanik, wie die Dutzenden ineinandergreifenden Einzelprozesse des Klimasystems, nachbauen zu können, muss man reingehen in das Räderwerk dieser Prozesse und sie von innen studieren“, so Rex. „Man muss von all den kleinen Zahnrädchen, Federchen und Schräubchen in diesem Uhrwerk genau verstehen, wie sie funktionieren und sie genau vermessen. Man muss praktisch bei jedem Zahnrad zählen, wie viele Zähne da dran sind.“
Autor Heberlein: „Nochmal schlechte Nachrichten also aus dem hohen Norden der Erde. Was den Kampf gegen den Klimawandel angeht, halten die Forscherinnen und Forscher ein klares Plädoyer: nicht nur immer neue, noch ambitioniertere Ziele beschließen. Sondern handeln – viel schneller als bisher.“
->Quellen und Publikationen:
- awi.de/default-07b7450ef9
- tagesschau.de/aarktisexpedition-mosaic-polarstern
- Originalpublikationen
1. Robert Ricker, Frank Kauker, Axel Schweiger, Stefan Hendricks, Jinlun Zhang, and Stephan Paul (2021): Evidence for an increasing role of ocean heat in Arctic winter sea ice growth, in: Journal of Climate, DOI: https://doi.org/10.1175/JCLI-D-20-0848.1
2. H. Jakob Belter, Thomas Krumpen, Luisa von Albedyll, Tatiana A. Alekseeva, Gerit Birnbaum, Sergei V. Frolov, Stefan Hendricks, Andreas Herber, Igor Polyakov, Ian Raphael, Robert Ricker, Sergei S. Serovetnikov, Melinda Webster, and Christian Haas (2021): Interannual variability in Transpolar Drift summer sea ice thickness and potential impact of Atlantification, in: The Cryosphere, DOI: https://doi.org/10.5194/tc-2020-305<